Die Leyara-Trilogie
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Leyara und die Traumwandler
Wie alle anderen Einwohner Moreias wurde die vaterlos aufgewachsene Leyara im Alter von 11 Jahren auf die Gabe des Traumwandelns geprüft. Eine Befähigung für diese ehrenvolle Tätigkeit wurde jedoch nicht festgestellt.
Einige Jahre später folgt Leyara einer eher ungewöhnlichen Bitte: Der betagte Traumwandler Lukas sucht Unterstützung bei seiner Reise in die Heimat der Wandler. Als seltsame Träume Leyara heimsuchen und immer mehr Traumwandler nicht mehr aus dem Schlaf erwachen, nimmt die Reise eine dramatische Wendung. Haben Leyaras Träume etwas mit diesem Tiefschlaf zu tun?
Sneak Peaks
Leseprobe
Band 1 — Leyara und die Traumwandler
Hier kannst du einen Blick in das erste Kapitel werfen.
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Das ist Morea
Kapitel 1
Leyara drückte sich rasch in die Hecke, als die Reiter vorbeisprengten. Dreckklumpen flogen unter den Hufen auf. Leyara drehte sich weg und presste ihren Korb schützend an sich. Einige der Klumpen hatten sie getroffen.
Der Graf hatte der Bevölkerung versprochen, seine Söhne zu zügeln, aber bisher zeigten sich die drei jungen Männer wenig beeindruckt. Mit lauten Rufen trieben sie ihre Tiere weiter an und lachten über die Passanten, die von der Straße flohen. Endlich verschwanden sie um die nächste Ecke. Leyara atmete auf und wischte sich den Dreck vom Kleid. Es war schon schäbig genug mit all den Flicken und abgetragenen Stellen, da wollte sie wenigstens nicht schmutzig auf dem Markt erscheinen.
Leyara setzte ihren Weg zum Dorfplatz fort. Unwirsch schob sie Strähnen ihres aschbraunen Haares hinter die Ohren. Vielleicht sollte sie wirklich ein Tuch tragen, wie ihre Mutter es ihr immer wieder nahelegte. Aber die hielten sich auch nie an ihrem Platz, sodass Leyara es bei wenigen Versuchen belassen hatte.
Ein Traumwandler eilte an Leyara vorbei und grüßte sie kurz. Er war vermutlich auf dem Weg zum Gerber, dessen Sohn seit einigen Tagen krank war. Kurz machte sich Leyara Sorgen. Wenn das Kind jetzt auch Fieberträume hätte. Er war noch nie kräftig gewesen. Hoffentlich konnte der Traumwandler ihm helfen.
Kurz dachte Leyara daran, dass sie selbst einmal gehofft, ja, gewünscht hatte, eine Traumwandlerin werden zu können. Mit elf Jahren war ihr diese Hoffnung auf ein anderes Leben genommen worden. Sie sah die Traumwandlerin noch genau vor sich, die damals die Prüfung durchgeführt hatte. Insbesondere, weil das die erste Begegnung mit einer Frau in diesem Beruf war, hatte es sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Leyara schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Es hatte nicht sollen sein. Seither hatte sie kaum darüber nachgedacht, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte.
Sie erreichte den Dorfplatz und wand sich vorsichtig durch die Menschen, die sich zwischen den Marktständen bewegten. Bauern priesen ihre Erzeugnisse an, der Gerber, der Weber, der Bäcker – und ja, auch einige Jäger boten ihre Ware feil.
An einer kleinen Linde auf der anderen Seite des Platzes traf Leyara Jonathan. Sie lächelte.
“Rehauge!”, rief er begeistert und stieß sich vom Baumstamm ab. “Du bist spät dran.”
“Die Grafensöhne sind wieder unterwegs, Jona. Und ein Traumwandler ist zum Gerber geeilt.”
Sie zwang sich, keinen Blick auf ihr Kleid zu werfen, welches immer noch einige Spuren der Begegnung trug.
“Die Grafensöhne? Na, dann sei dir verziehen.”
Jonathan zog sie zum Stand seines Vaters und nahm ihr den großen Korb ab.
“Was hat dich deine Mutter heute holen geschickt, Rehauge?”
“Ich soll Mehl, Kartoffeln und wenn möglich Bohnen mitbringen.”
Während Leyara die benötigten Waren auflistete, packte Jonathan rasch das Gewünschte zusammen. Den Korb stellte er anschließend auf den Wagen hinter dem Stand.
“Vater? Ich werde noch ein wenig über den Markt gehen. Soll ich etwas mitbringen?”
“Nein, wir haben alles. Muttern backt heute selbst. Geht nur und genießt den Markttag!”, sagte er und winkte die zwei mit einem breiten Lächeln davon.
Jonathan und Leyara schlenderten über den sich immer weiter füllenden Marktplatz. Jonathan schien schon eine erste Runde über den Markt gegangen zu sein, ehe er auf Leyara gewartet hatte. Zielsicher steuerte er auf den Gaukler zu, der gerade mit einigen Ringen jonglierte.
“Was hältst du von einem Abstecher zu den Feldern im Süden? Die Birnbäume am Straßenrand tragen dort immer noch Früchte”, flüsterte er ihr zu und zwinkerte. “Ich habe es heute Morgen vom Wagen aus gesehen.”
Erschrocken sah Leyara ihn an: “Aber – das ist doch Diebstahl Jona!”
“Rehauge, das wäre nicht das erste Jahr, dass wir dorthin gingen.”
“Ich weiß, Jona. Aber Mutter hat mir immer wieder eingeschärft, dass ich inzwischen zu alt für solche Streiche bin!”
Bevor Jonathan antworten konnte, zuckte der Gaukler zusammen und ließ die Ringe fallen. Leyara sah sich um. Einige Schreie waren zu hören. Die neben Leyara Stehenden hatten sich zum Haus der Traumwandler gedreht. Leyara folgte ihren Blicken. Ein Traumwandler sprach gerade zu den Umstehenden.
“Was hat das zu bedeuten, Jona?”
“Komm, das sehen wir uns an. Den Gaukler können wir auch später wieder besuchen.”
Jonathan zog Leyara wieder durch die Menge. Ein paar Meter vom Haus der Traumwandler entfernt mussten sie stehen bleiben.
“Was? Er ist nicht mehr erwacht?”
“Wer?”, fragte Leyara leise.
“Traumwandler Leonhart”, sagte die Frau und warf einen abschätzenden Blick auf Leyara. “Der Älteste der Traumwandler.”
Als ob Leyara nicht wusste, wer Traumwandler Leonhart ist! Nur mit Mühe konnte sie sich eine Erwiderung verkneifen.
Jonathans Hand legte sich auf ihre Schulter. Als Leyara sich ihrem Freund zuwandte, wirkte er geschockt.
Die Menge wogte, als sich jemand nach vorn zum Haus der Traumwandler durchdrängelte. Die Frau des Gerbers trat an den Traumwandler heran, der vor der Tür stand und sprach kurz mit ihm. Ihr Gesicht war bleich, und je länger sie mit dem Traumwandler sprach, desto weißer wurde auch sein Gesicht. Scharf fragte er etwas nach und als sie nickte, griff er sich erschrocken ans Herz.
“Der Traumwandler, der zum Sohn des Gerbers gelaufen ist – ob ihm ebenfalls etwas passiert ist?”, flüsterte Leyara leise.
“Sag so etwas nicht, Rehauge! Sie haben gerade erst ihr Oberhaupt verloren! Das wäre ja schrecklich!”
“Ich weiß, Jona. Aber sieh sie dir an.”
Sie deutete auf die beiden Menschen auf den Stufen vor dem Haus.
“So bleich. Traumwandler Dan wirkt so kraftlos. Da ist etwas Schreckliches passiert!”
Der Traumwandler, immer noch mit Schrecken im Gesicht, schien sich etwas zu fangen. Er dankte der Frau des Gerbers und betrat mit schweren Schritten das Haus. Die Frau sah ihm kurz nach, dann ging sie mit eiligen Schritten die Treppe hinunter und über den Markt.
“Ob es etwas Genaueres zu erfahren gibt?”
Jonathan schüttelte leicht den Kopf.
“Traumwandler Richard wacht nicht mehr auf”, flüsterte jemand zu niemand bestimmten. “Die Frau des Gerbers hat es gesagt. Und ihrem kleinen Sohn geht es nicht besser!”
“Das kann nicht sein!”, antwortete jemand, ebenso leise.
“Doch, sie hat es gerade erzählt. Und dem Jungen geht es kaum besser!”
Erschrocken blickte Jonathan Leyara an.
“Du hattest Recht, Rehauge!”
“Jona, ich muss heimkehren.” Leyara packte seinen Arm, ihre Hand krampfte sich leicht in den Stoff seines Hemdes. “Meine Mutter wird am Boden zerstört sein und mich brauchen, wenn sie von all dem hört. Traumwandler Leonhart hat ihr einmal das Leben gerettet, als sie sehr heftige Fieberträume hatte.”
Jonathan nickte.
“Natürlich! Komm!”
Jonathan bahnte sich und Leyara einen Weg zurück zum Stand seines Vaters. Wortlos zahlte Leyara für die Waren, dann eilte sie voller Sorge heim.
Die Gartenpforte hing leicht schief in den Angeln und quietschte beim Öffnen und Schließen. Leyaras Augen glitten rasch über die Beete. Mutter war nirgends zu sehen, aber einige Kräuter waren geerntet worden. Auch am Apfelbaum fehlten ein paar der schrumpeligen Äpfel. Leyara mochte diesen Baum. Im Sommer spendete er kühlen Schatten und seine Äpfel waren immer süß und saftig, aber aufgrund ihres Aussehens nicht für die Tafel eines hohen Herren geeignet.
Ihre Mutter Tinka stand am Herd im Wohnraum der Hütte und rührte in einem Topf, als Leyara eintrat. “Du bist heute früh zurück.“
Leyara holte tief Luft.
“Ja, Mutter. Es ist etwas Schreckliches bei den Traumwandlern passiert.”
“Seit wann achtest du auf Gerüchte und erzählst sie weiter?”
Tinka drehte sich zu Leyara um. Sie wirkte wenig begeistert.
Leyara stellte ihren Korb auf dem Esstisch ab.
“Du weißt, dass ich keine Gerüchte weitererzähle, sondern nur wirkliche Neuigkeiten mit nach Hause bringe”, sagte sie und begann, den Korb auszuräumen. “Traumwandler Dan hat heute schlechte Nachrichten verkündet. Traumwandler Leonhart ist aus einem Traum nicht mehr erwacht, er hat sich verloren.”
“Was? Er ist ein sehr erfahrener Wandler! Das kann nicht sein, Leyara!”, sagte Tinka und trat auf Leyara zu.
“Wenn ich es aber doch von Traumwandler Dan selbst gehört habe! Er stand noch unter Schock. Du hättest ihn sehen sollen!”, erwiderte Leyara und sah ihre Mutter jetzt direkt an. “Aber das ist noch nicht alles.”
“Was kann es weiter wichtiges geben?”
Tinka stützte sich leicht an einem der beiden Stühle ab.
“Der Sohn des Gerbers hat heute die Hilfe eines Traumwandlers gebraucht – aber auch Traumwandler Richard ist nicht aus dem Traum erwacht! Und dem Jungen geht es nicht besser. Die Frau des Gerbers kam zum Haus der Wandler und erzählte es dort.”
Leyaras Mutter griff sich ans Herz und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen.
“Das sind wirklich schlimme Nachrichten, Leyara Schatz. Ich mag es kaum glauben.”
Leyara ging kurz zum Kamin und goss ihrer Mutter eine große Tasse von dem Kräutertee ein, der wie üblich über dem Feuer hing. Dann nahm sie sich ebenfalls eine Tasse.
“Ich dachte, es sei sehr selten, dass sich ein Traumwandler verliert”, murmelte Leyara in ihren Tee. Erst jetzt, da sie gemütlich vor dem Kamin saß, holte der Schrecken der Ereignisse sie ein.
“Das ist es.” Ihre Mutter rieb langsam sich die Stirn. Ihre Stimme war tonlos. “Und dass sich zwei Traumwandler am selben Tag verlieren – davon habe ich noch nie gehört.”
“Ich mache mich los zu Kaufmann Trevor.”
Tinka strich sich den neuen Rock glatt. Leyara trat zu ihr und rückte ihre Haube zurecht. Sie warf einen besorgten Blick ins Gesicht ihrer Mutter. Sie schien den Schock des Morgens jedoch überwunden zu haben. Oder zeigte es nicht mehr.
“Danke. Ich bin heute Abend vermutlich früher zurück. Es steht heute nicht viel an.”
Tinka strich Leyara über die Wange.
“Sorge dich nicht. Es wird sich schon alles finden.”
Kurz sah Leyara ihrer Mutter nach. Dann begann sie, die kleine Hütte aufzuräumen. Sie spülte das Geschirr am Trog hinter der Hütte, wo neben einem kleinen Brunnen ein winziger Hühnerstall drei Hühner beherbergte. Wieder im Haus schüttelte sie im Nebenraum die Decke vom Bett auf, welches sie sich mit ihrer Mutter teilte. Im Winter war das ganz angenehm, da so keiner fror, aber inzwischen wurde es doch recht eng.
Im Wohnraum öffnete sie die Fenster und räumte die schon ausgepackten Einkäufe endlich weg. Dann begann sie mit den Vorbereitungen für das Abendessen. Mit den Bohnen in einer Schüssel setzte sie sich vor das Haus und säuberte diese von Stielen und schnitt sie in eine zweite Schüssel. Ein paar der Nachbarn grüßten sie. Die Tochter eines der Bauern winkte ihr fröhlich zu, ehe sie von ihrem Vater zur Ordnung gerufen wurde und weiter ging.
Leyara war ganz froh, dass sie ohne Vater aufgewachsen war. Ihr waren so trotz strenger Mutter viele Verbote erspart geblieben und bisher auch eine arrangierte Ehe. Leyara wollte nicht darüber nachdenken, eines Tages mit irgendeinem Mann vermählt zu werden, seinen Haushalt zu führen und seine Kinder auszutragen. Sie liebte ihre kleinen Freiheiten.
Nachdem sie die Bohnen geputzt hatte, kehrte Leyara in den Wohnraum zurück. Bevor sie die Hütte verlassen hatte, hatte sie den Teekessel gegen einen Wasserkessel getauscht. Das Wasser kochte inzwischen, sodass sie die Bohnen hinzugeben konnte. Außerdem fügte sie ein paar geputzte Kartoffeln hinzu und streute eine Prise Salz darüber. Sie würde ihrer Mutter sagen müssen, dass sie neues Salz kaufen müssten, es war kaum mehr etwas da. Das würde erneut ein großes Loch in die Kasse reißen, Salz war teuer und nicht leicht zu bekommen.
Während das Abendessen langsam zu kochen begann, ließ sich Leyara nachdenklich auf einen Stuhl fallen. Wieder einmal dachte sie über die Geschichten nach, welche manchmal beim Waschen am Fluss erzählt wurden. Hinter vorgehaltener Hand wurde über das Reich der Bärin gesprochen, in welchem angeblich Frauen regierten.
Hin und wieder erlaubte sich Leyara, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn sie in einem solchen Reich aufwachsen würde. Wenn sie nicht gemeinsam mit ihrer Mutter in einer ärmlichen Hütte leben müsste, sondern sie einem angesehenen Handwerk nachgehen könnten oder gar die Geschicke des Reiches lenken.
Ein Klopfen riss Leyara aus ihren Tagträumen. Sie eilte zur Tür und öffnete. Vor ihr stand ein alter, gebeugter Mann in der Tracht der Traumwandler.
“Seid gegrüßt, Ehrwürdiger.”
“Sei gegrüßt, Tochter.”
“Wie kann ich Euch helfen, Ehrwürdiger?”
“Ich bin auf der Durchreise und benötige eine Unterkunft für die Nacht.”
“Bitte, kommt herein, Ehrwürdiger.”
Leyara öffnete die Tür ganz und ließ ihn eintreten. Seine Bitte war ungewöhnlich, aber sie durfte sie nicht abschlagen. Immerhin war er ein Traumwandler – und auch sonst wäre eine Verweigerung der Gastfreundschaft entgegen jedweder Gepflogenheiten und Regeln.
Der Traumwandler sah sich kurz im Wohnraum um, dann setzte er sich auf den Stuhl am Kamin.
“Ich kann Euch leider nur kalten Tee anbieten.”
“Ich mag Tee lieber kalt als warm.”
Leyara reichte ihm eine Tasse Kräutertee, dann kümmerte sie sich still um das Abendessen. Der Traumwandler beobachtete sie schweigend.
Kurz war es Leyara unangenehm, aber dann hatte sie sich daran gewöhnt. Der Traumwandler blickte offen und freundlich, nicht abschätzend. Aber es wäre wohl auch entgegen allem, wofür Traumwandler standen. Trotzdem wirkten manche wenig begeistert davon, den ärmeren Bürgern zu helfen.
Als es dunkel wurde, kehrte Leyaras Mutter Tinka von ihrer Arbeit heim.
“Tinka. Ich freue mich, dass es dir gut geht.”
Der Traumwandler erhob sich leicht und nickte Leyaras Mutter grüßend zu.
“Traumwandler Lukas!”
Tinka trat rasch in die Hütte und schloss die Tür. Auf Leyara wirkte sie überrascht, leicht bleich.
“Es ist lange her, als ich dich das letzte Mal sah. Damals, als du das Dorf verlassen hast.”
Tinka nickte – und schluckte.
“Ich habe mich für dich gefreut, als ich hörte, dass du hier eine neue Heimat gefunden hast.”
“Was – was führt Euch zu uns?”
Tinka trat an den Tisch.
“Ich reise in die Traumlande – die Heimat der Traumwandler. Es ist an der Zeit, dass jüngere Wandler meine Arbeit tun. Außerdem macht die Kälte hier im Norden meinen Gelenken immer mehr zu schaffen.”
Leyara runzelte kurz die Stirn. Von den Traumlanden hatte sie gehört, aber es schien ihr so weit weg.
“Deine Tochter war so lieb und hat mir gestattet, die Nacht bei euch zu verbringen.”
Tinka setzte sich.
“Warum habt Ihr nicht das Haus der Traumwandler aufgesucht?”
“Das wollte ich zuerst, aber als ich hörte, dass du hier wohnst, wollte ich dich besuchen. Sieh es als Eigenheit eines alten Mannes. Aber ich fühle eine Schuld dir gegenüber – und gegenüber deiner Tochter. Ich hätte dir vor all den Jahren helfen sollen. So, wie es Traumwandler tun. Ich lebte allein im Haus der Traumwandler, und eine fleißige Haushälterin hätte mein Leben erleichtert und dir einen gewissen Status verschafft. Ich habe dies zu spät erkannt.”
Er schüttelte leicht betrübt den Kopf.
“Ihr habt mehr getan als alle anderen! Ihr habt dafür gesorgt, dass meine Eltern ein gutes Begräbnis erhalten haben. Dass ich nicht sofort davongejagt wurde.”
Leyara sah zwischen den beiden hin und her, sie verstand nur wenig. Wovon redeten die beiden?
“Deine Tochter sieht dir ähnlich, Tinka.”
„Ja – ja, das tut sie.“ Tinka rieb sich die Augen und schwieg eine kleine Weile.
Leyara wagte kein Wort zu sagen.
Dann stand ihre Mutter mit einem Ruck auf.
„Leyara, hol den Hocker aus dem Garten. Wir wollen zu Abend essen.“
Nach einer Nacht auf dem harten Boden erschien Leyara der Weg zum Bäcker doppelt so lang wie sonst. Wie es sich gehörte, hatte Tinka dem hochgestellten Gast das Bett angeboten. Leyara versuchte, es ihm nicht übel zu nehmen, aber die Rückenschmerzen verleideten ihr etwas den sonnigen Tag.
„Im Haus der Traumwandler hätte er es bequemer gehabt“, murmelte sie verdrossen und trat an das Verkaufsfenster.
“Ein Laib Brot bitte”, sagte sie dem Bäcker, der sich daraufhin den Waren zuwandte.
„Rehauge, was hat dir denn die Petersilie verhagelt?“
“Jona! Guten Morgen!”
Leyaras Laune verbesserte sich schlagartig.
“Welch eine Überraschung! Was führt dich ohne Markttag ins Dorf?”
“Wir haben gestern Abend Besuch bekommen – der Traumwandler aus dem Heimatdorf meiner Mutter.”
“Ein Traumwandler? Komm, gib mir den Korb!”
Ehe Leyara etwas tun konnte, hatte ihr Jonathan den Korb abgenommen. Rasch kramte Leyara eine Münze heraus und gab sie dem Bäcker. Jonathan nahm das Brot entgegen und legte es in den Korb.
“Guten Tag Jonathan. Vielen Dank, dass du Leyara geholfen hast.”
„Ich helfe gern einer Dame in Not.“
Mit einer übertrieben tiefen Verbeugung reichte Jonathan den Korb an Tinka weiter.
Leyara verdrehte die Augen, aber Tinka lachte.
“Komm doch mit herein, Jonathan, der Tisch ist schon gedeckt.”
“Danke. Eine kleine Stärkung wird mir guttun. Ich habe heute Morgen schon Getreide geerntet. Als die Sichel brach, schickte mein Vater mich ins Dorf zum Schmied.”
Alle setzten sich zum Traumwandler an den Tisch. Leyara hatte den Hackklotz mit in die Hütte genommen, damit alle sitzen konnten.
“Schafft ihr die Ernte denn ohne?”, fragte Tinka besorgt.
“Nein. Ich kann die Sichel aber nachher wieder abholen.”
Leyara versuchte, auf dem unebenen Klotz möglichst still zu sitzen. Die raue, splittrige Oberfläche war ungemütlich und hatte sich bestimmt schon in ihrem Kleid verfangen.
Der Traumwandler erhielt die erste Scheibe Brot.
“Danke, Tinka. Nach dem Frühstück werde ich aufbrechen müssen. Ich danke dir schon jetzt für deine Gastfreundschaft – möchte aber noch eine Bitte aussprechen.”
Tinka nickte.
“Wäre es möglich, dass mich Leyara eine Weile begleitet? Ich weiß, das ist eine ungewöhnliche Bitte, aber ich bin alt und komme nur langsam voran. Junge Beine, welche mir einen Teil meiner Last abnehmen, würden meine Reise beschleunigen. Ich möchte vor dem Herbst die Traumlande erreichen. Der Frost macht mir schon jetzt sehr zu schaffen.”
Leyara freute sich über diese Ehre. Ein Traumwandler fragte nicht jeden um Hilfe. Mit vor Aufregung bangem Blick sah sie zu ihrer Mutter hinüber.
Tinka sah zu Boden, sodass sie Leyaras Blick nicht sah.
“Ich könnte meine Eltern fragen, ob ich Euch ebenfalls begleiten darf, Ehrwürdiger. Auf den Feldern ist nicht mehr viel zu tun. Dann würde Leyara sicher und wohlbehalten wieder heimkommen”, schlug Jonathan vor.
“Zwei Begleiter machen meine Reise sicherer und schneller als ein Begleiter. Ich würde mich über deine Gesellschaft freuen”, sagte der Traumwandler mit einem Lächeln. “Und ja, mit dir würde Leyara auf dem Heimweg sicherer sein – ihr beide.”
“Leyara kann viel besser von den Problemen der Traumwandler hier berichten”, warf der Traumwandler noch ein. “Ihr habt mir ja beim Abendessen davon erzählt. Eine Augenzeugin würde meinem Bericht mehr Wirkung verleihen.”
“Ich – ich kann Euch diese Bitte nicht abschlagen, Ehrwürdiger”, sagte Tinka langsam. “Wenn du es denn auch möchtest, Leyara.”
Leyara sah ihre Mutter nur kurz an. Sie wirkte betrübt, als ob sie etwas belastete. Leyara wollte ihre Mutter nicht so zurücklassen – aber die Traumlande sehen? Wie konnte sie da ablehnen? Und wenn sie den Traumwandler helfen konnte? Konnte sie es dann überhaupt ablehnen? Hatte sie eine Wahl? Nein. So wenig, wie Traumwandler wählten, wem sie halfen oder nicht, so wenig hatte sie in diesem Moment eine.
“Ich begleite Euch gern, Ehrwürdiger, wenn Jonathan mitkommen kann.”
Leyara war selbst erstaunt, wie sicher sie sich anhörte. Aber – es tat gut, gebraucht zu werden. Etwas tun zu können. Mit Grauen dachte sie daran, wie betroffen ihre Mutter am Vortag gewesen war. Und wie es allen anderen ergehen musste.
“Ich bringe die reparierte Sichel zu meinem Vater und frage, ob ich mit Euch reisen darf”, sagte Jonathan. Er stand auf und verließ mit raschen Schritten die Hütte.
Kurz nach Jonathans Abschied hatte Tinka einen altern Lederrucksack hervorgeholt. Er wirkte viel genutzt, aber die ursprünglich sehr gute Qualität war immer noch gut zu sehen.
“Sei auf der Reise vorsichtig”, mahnte Tinka Leyara. “Vertrau den Leuten nicht, wenn Traumwandler Lukas es nicht auch tut.”
“Mutter!”
“Hier kennt uns jeder. Das ist in anderen Orten nicht so. Sei vorsichtig.”
Tinka legte eines ihrer besseren Kleider mit in den Rucksack.
“Das wirst du brauchen.”
Kurz hielt sie inne.
“Hol deine festen Schuhe, Leyara. Du solltest sie mitnehmen. Gute Schuhe sind wichtig auf Reisen.”
Leyara hob das Paar Schuhe auf und reichte sie Tinka.
“Wir sind früher viel gereist”, sagte Tinka leise. “Aber daran wirst du dich kaum erinnern können. Du warst fast noch ein Baby.”
“Wir? Gereist?”
“Die Welt dort draußen ist groß. Größer, als du dir jetzt vorstellen kannst.”
Tinka schwieg kurz.
“Versprich mir, Leyara, dass du unterwegs mit keinem Mann das Bett teilst! Auch nicht mit Jonathan! Ich weiß ja, dass ihr gut miteinander auskommt.”
“Aber, Mutter, warum sollte ich?”
Verwirrt sah Leyara ihre Mutter an. Die Warnung hatte Tinka schon häufiger ausgesprochen. Und was sollte das mit Jonathan? Würde ihre Mutter Jonathan für sie aussuchen? Würde sie mit ihm leben wollen? Leyara stieß den Gedanken von sich.
“Was wäre so schlimm daran, wenn ein Mann neben mir schlafen würde? Wir beide teilen uns doch auch ein Bett.”
“Ach, Kind”, sagte Tinka und seufzte. “Du könntest schwanger werden. Und dann – dann müsstest du dein Leben leben, wie ich es tun musste.”
Leyara nahm ihre Mutter in den Arm. Ihre Mutter wirkte auf einmal alt und gebrechlich. Besorgt. Als ob irgendeine Last auf ihr läge.
“Unser Leben ist doch aber schön.”
“Ja, hier ist es das. Hier kennen uns alle so, wie wir sind. Aber – wenn du schwanger zurückkehren solltest. Die Leute würden es nicht akzeptieren. Ich habe das bereits erlebt.”
Entsetzt sah Leyara sie an.
“Aber –”
“Natürlich kommst du heim, sollte das passieren. Wir finden einen Weg.”
Fast schien es Leyara, als würde sich ihre Mutter an sie klammern.
“Ich komme heim, Mutter. Sorge dich nicht. Ich passe auf mich auf.”
“Meine kleine Leyara wird groß.”
Tinka straffte sich und strich sanft über Leyaras Wange.
“Lass uns deinen Rucksack fertig packen. Jonathan wird bald zurück sein und Traumwandler Lukas wartet sicherlich schon. Richte dich nach ihm. Er ist ein guter, ein ehrbarer Mensch. So, wie Traumwandler sein sollten.”
Der Kleidung folgte etwas Geschirr, das restliche Brot vom Frühstück, ein paar schrumpelige Äpfel und der kleine Kanten Hartkäse.
Fröhlich pfeifend betrat Jonathan mit seinem Rucksack die Hütte.
“Wir können los!”, rief er fröhlich.
Mit gemischten Gefühlen schulterte Leyara ihren Rucksack und umarmte ihre Mutter.
„Leb wohl, Mutter. Mach dir keine Sorgen.“
Wenn sie ehrlich war, sollten ihre Worte nicht nur ihre Mutter beruhigen.
„Ich bin bald zurück.“
Aber es kam ihr vor wie ein Abschied für immer.
Kapitel 2
Müde blickte Leyara ins Feuer. Jonathan hatte sich bereits schlafen gelegt und auch der alte Traumwandler hatte schon seine Decke ausgebreitet und saß darauf. Leyara aber wollte nicht schlafen. Schon seit drei Tagen – dem Großteil ihrer bisherigen Reise – suchten sie nachts beunruhigende Träume heim. Sie hörte Hilferufe, sah seltsame Monster. Jedes sah anders aus. Und immer sah sie andere Orte. Die Träume kamen ihr realer vor als je zuvor in ihrem Leben.
„Du bist einfach erschöpft, Leyara“, hatte Jonathan dazu gesagt. „Die Reise ist anstrengend.“
So ganz konnte Leyara das nicht glauben. Mit dem Traumwandler hatte sie noch nicht darüber gesprochen. Es kam ihr ja selbst kindisch vor.
“Leg dich schlafen, Mädchen”, sagte der Traumwandler von seinem Lager aus. “Es ist spät und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.”
Leyara folgte seiner Aufforderung und kuschelte sich unter ihre Decke, aber ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Lange starrte sie in den Nachthimmel. Als sie endlich einschlief, bekam sie dies kaum mit, denn im Traum sah sie ebenfalls einen Sternenhimmel.
Nachdenklich lag sie da, spürte das Gras unter sich, als sie eine leichte Angst überkam. Leise stand sie auf und versteckte sich in einem Gebüsch. Wie in ihren anderen Träumen zogen wenig später wieder Monster an ihr vorbei. Sie hatten Hörner und Klauen. Eines lief auf Tentakeln.
In ihrer Mitte lief ein leicht durchscheinend aussehender Mann. Im Gegensatz zu den Monstern wirkte er wie ihre Träume vor der Reise: Schwammig, kaum greifbar.
Er wehrte sich, aber unbewaffnet und gefesselt war seine Gegenwehr sinnlos.
Mit einem Ruck wachte Leyara sich auf, froh dem Traum entronnen zu sein. Das Herz trommelte in ihrer Brust und sie musste sich erst vergewissern, dass die Straße neben ihrem Lager leer war, ehe sie sich ans Feuer setzen konnte.
“Mädchen, du musst dich ausruhen.”
Traumwandler Lukas saß immer noch am Feuer. Seine Teetasse war inzwischen leer.
“Ich weiß, Ehrwürdiger. Aber seit Tagen träume ich schlecht. Ich weiß nicht, woher es kommt.”
“Erzähl mir von den Träumen. Ich kenne viele Träume, es ist meine Berufung und mein täglich Brot.”
Leyara nickte beklommen, dann erzählte sie. Aufmerksam hörte der Traumwandler zu und unterbrach sie nur hin und wieder mit Fragen.
“Nun, deine präzisen Angaben zu den ‚Monstern‘ sind erstaunlich. Es ist selten, dass ein Nicht-Traumwandler sich an so viele Einzelheiten erinnert. Nur der Mann macht mir Sorgen. Es ist sehr ungewöhnlich, dass Traumbilder desselben Traums so verschieden sind.” Er überlegte. “Lass mich an deinem Traum teilhaben. Wenn du ein irgendein Gefühl hast, folge ihm, nimm meine Hand und führe mich. Wir sollten nicht miteinander reden, auch wenn das in Träumen möglich ist. Ich werde ein reiner Beobachter sein, denn jede meiner Handlungen könnte zu Änderungen führen.”
Leyara nickte zögerlich, legte sich dann aber wieder hin. Ein Traumwandler wusste, was er tat und warum. Sie schloss die Augen. Sie spürte die Hand des Traumwandlers auf ihrer Stirn und plötzlich überfiel sie eine starke Müdigkeit. Nur kurz wehrte sie sich, dann ließ sie sich von ihr in den Schlaf wiegen.
Wieder saß Leyara auf einer Wiese. Es war eine andere als zuvor. Im warmen Sonnenlicht sah sie sehr friedlich aus.
Sie spüre einen Blick auf sich und als sie sich umwandte, stand jemand hinter ihr. Es musste Traumwandler Lukas sein, auch wenn er deutlich jünger und rüstiger wirkte. Er hatte zwei Schwerter und einige Messer am Gürtel, über seine Schulter war ein Bogen zu sehen.
Ob er die Waffen bei seiner Tätigkeit als Traumwandler brauchte? Leyara konnte sich nicht daran erinnern, wie Traumwandler in ihren Träumen ausgesehen hatten. Es war selten gewesen, dass sie Hilfe gebraucht hatte – und ihre Erinnerung daran undeutlich.
Traumwandler Lukas kam zu ihr hinüber und lächelte leicht. Nur wenig später überkam die unbestimmte Angst Leyara erneut, es befiel sie schlimmer als zuvor. Voller Angst packte sie die Hand des Traumwandlers und zog ihn rasch von der Wiese. Sie mussten sich verstecken – und zwar schnell!
Nach nur wenigen Schritten tat sich vor ihnen, leicht hinter einem Gebüsch versteckt, eine kleine Öffnung auf. Der Hügel, in welcher diese war, war vorher noch nicht da gewesen. Leyara schob jedweden Gedanken daran von sich. Sie schob Traumwandler Lukas vor sich in die Höhle.
Auf der Wiese waren inzwischen einige Monster zu sehen. Anders als im vorherigen Traum suchten sie jedoch die Wiese ab. Sie schnüffelten mit langen Nasen, lauschten mit großen Ohren, schienen jedoch keine wirkliche Fährte zu finden. Sie liefen immer wieder suchend über die Wiese. Den Erscheinungsort des Traumwandlers untersuchten sie länger.
Der Traumwandler legte Leyara beruhigend einen Arm um die Schultern. Gemeinsam harrten sie in der engen Höhle aus.
Konnten die Monster nicht endlich verschwinden?
Wie gern wäre Leyara jetzt aufgewacht, wäre der Situation entflohen. Aber irgendwie konnte sie es nicht.
Leyara wandte sich Traumwandler Lukas zu, aber er schüttelte stumm den Kopf und gab ihr zu verstehen, dass sie weiterhin schweigen sollten. Unsicher warf Leyara einen Blick nach draußen. Ihr war nicht wohl dabei, nur durch das Gestrüpp vor den Blicken der Monster geschützt zu sein.
Leyara kniff die Augen zusammen. War das Gestrüpp gerade dichter geworden? Sie schüttelte leicht den Kopf. Sie bildete sich in ihrer Angst schon Dinge ein.
Als die Monster endlich von der Wiese verschwanden, brach Traumwandler Lukas das Schweigen.
“Lass uns gehen.”
Plötzlich war Leyara wieder wach. Sie setzte sich auf. Fröstelnd rieb sie sich die Arme.
“Das war ein interessanter Traum. Ich werde dir jetzt helfen, traumlos zu schlafen. Du brauchst die Ruhe und ich Zeit, um über das Erlebte nachzudenken. Morgen früh werde ich dir erzählen, was ich bis dahin herausgefunden habe.”
Dankbar lächelte Leyara. Sie wollte zwar gern wissen, was ihr Traum ihm gesagt hatte, aber die Kraft eine durchschlafene Nacht brauchte sie auch. Und Träume waren sein Fachgebiet. Wenn er Zeit brauchte, dann würde das seine Richtigkeit haben.
Sie kuschelte sich unter ihre Decke. Wieder spürte sie seine Hand auf ihrer Stirn. Danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern.
Zischend kochte das Teewasser über.
„Mist!“
Hastig zog Leyara den Topf vom Feuer. Wenn nur der Traumwandler bald aufwachen würde! Hoffentlich konnte er ihr sagen, woher ihre seltsamen Träume kamen!
Mit vor Kälte zitternden Händen öffnete sie das Kräuterpäckchen. Als sie die getrocknete Minze in den Topf streute, wachte Traumwandler Lukas auf. Leyara biss die Zähne zusammen, um ihn nicht zu bedrängen. In aller Ruhe wusch er sich das Gesicht und zog sich seine Stiefel an. Gemächlich setzte er sich zu ihr ans Feuer. Kurz dachte sie daran, dass die Kälte ihm sicherlich zusetzte. Warum blieben sie nachts nicht in einem Gasthaus oder Haus der Traumwandler?
“Ich habe über deinen Traum nachgedacht, Leyara. Auch, wenn es unwahrscheinlich klingt, glaube ich, dass deine Träume mit dem Tiefschlaf der Traumwandler zusammenhängen könnten. Die Monster – Traumwesen oder in diesem Fall Albtraumwesen – haben sehr zielstrebig den Bereich abgesucht, in welchem ich in deinen Traum eintrat. Sie verfolgten die Spur sogar bis zu dem Punkt, an welchem du meine Hand ergriffen hast.”
Nachdenklich sah der Traumwandler ins Feuer.
“Es will mir fast scheinen, als ob diese speziellen Albtraumwesen Traumwandler aufspüren können. Der Mann, den du bei ihnen gesehen hast, könnte also ein Traumwandler gewesen sein – in seiner Traumgestalt.”
Textschnipsel zu Leyara und die Traumwandler
“Du bist so hübsch mit dem Kleid. Bist du eine entführte Prinzessin?”, fragte das Mädchen.
Leyara lachte und zog die Kleine mit an den Tisch.
“Das bist du doch, oder? Eine entführte Prinzessin!”
Besorgt sah Leyara zu ihm hinüber. Sein rechtes Auge war immer noch geschwollen, die Farbe kaum besser als vor zwei Tagen. Die aufgesprungenen Lippen hatte er fest zusammengepresst.
Nachdenklich lag sie da, spürte das Gras unter sich, als sie eine leichte Angst überkam. Leise stand sie auf und versteckte sich in einem Gebüsch. Wie in ihren anderen Träumen zogen wenig später wieder Monster an ihr vorbei. Sie hatten Hörner und Klauen. Eines lief auf Tentakeln.
In ihrer Mitte lief ein leicht durchscheinend aussehender Mann. Im Gegensatz zu den Monstern wirkte er wie ihre Träume vor der Reise: Schwammig, kaum greifbar.
Er wehrte sich, aber unbewaffnet und gefesselt war seine Gegenwehr sinnlos.
Das Wesen sah zärtlich auf das Licht, dann riss es sein Maul auf – Geifer tropfte von den Hauern – und biss ein kleines Stückchen ab. Genüsslich kauend schloss es halb die Augen, dann war es an Leyara vorbei.
Neugierig geworden?
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Leyara und die Traumwesen
Alle Hoffnung der Traumwandler ruht auf Leyaras Schultern. Nur eine Traumwächterin wie sie hat die Fähigkeiten, den mysteriösen Tiefschlaf zu beenden, der so viele Traumwandler ergriffen hat und ihre Welt bedroht. Doch dafür muss sie in aller Eile lernen, ihre Begabung zu nutzen. Eine Herausforderung, denn gerade das Kämpfen widerspricht ihrer friedfertigen Natur.
Dann verschwindet das Traumwesen, dessen Unterstützung Leyara bisher so viel Kraft gegeben hat. Hängt sein Verschwinden mit dem Tiefschlaf zusammen? Kann Leyara ihre Bestimmung erfüllen und mit ihren Gefährten die schlafenden Traumwandler befreien?
Sneak Peaks
Kapitel 1
Müde folgte Leyara der dunklen Gestalt durch die verwinkelten Straßen von Theodorfurt. Das hastige gegessene Frühstück hatte sie nicht wacher gemacht.
“Beeil dich! Wir wollen heute noch ankommen.”
Leyara riss sich zusammen und beschleunigte ihre Schritte. Unter einer schwach flackernden Straßenlaterne wartete der kleine, drahtige Traumwandler auf sie.
Nach einigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht – zumindest vermutete Leyara das, da der Traumwandler vor einem Haus stehen geblieben war und eine Tür aufschloss. Warmes Licht fiel auf die Straße.
Der Traumwandler betrat das Gebäude. Rasch folgte Leyara ihm. Sie standen auf den obersten Sitzrängen einer Kampfhalle, die der Halle in Windhall nicht unähnlich war. Allerdings konnte Leyara hier keine Holzwaffen sehen, die an den Wänden oder in Körben auf Schüler warteten.
Ungeduldig winkte sie der Traumwandler auf den Boden der Halle.
“Ältester Timotheus bat mich, dich im Kampf zu unterrichten”, begann er und öffnete eine Klappe in der Wandvertäfelung. Dahinter kamen die Waffen zum Vorschein, über deren Fehlen Leyara sich gewundert hatte. “Ich habe meine ganz eigenen Methoden, herausragende Kämpfer auszubilden.”
Mit einem Nicken reichte er ihr ein Holzschwert.
“Hier. Nimm es und halte es sanft, aber bestimmt fest. Dann schwenk es ein wenig hin und her.”
Leyara folgte seinen Anweisungen. Das Holzschwert war unhandlich.
“Mehr aus dem Handgelenk!”
Leyara versuchte, diese Aufforderung umzusetzen. Sie kam sich dabei lächerlich vor. Das Holzschwert lag schwer in ihrer Hand. Wie müsste es erst mit einem Metallschwert sein? Das in ihrem Traum war deutlich leichter gewesen!
“Besser”, sagte der Traumwandler wenig später und zog ein zweites Holzschwert hervor. “Jetzt gehen wir verschiedene Verteidigungspositionen durch.”
Mit ruhigen Bewegungen zeigte er Leyara, wie sie Hiebe aus verschiedenen Richtungen abblocken konnte. Insbesondere auf die rechte Seite legte er Wert, da sie das Schwert in der linken Hand führte.
“Heute üben wir das Blocken nur nach vorn, später musst du natürlich auch in der Lage sein, seitwärts und leicht rückwärts zu blocken. Also versuch schon jetzt, deine Umgebung möglichst genau im Auge zu behalten.”
Er wiederholte die gezeigten Verteidigungen. Leyara versuchte, seine Bewegungen nachzuahmen. Als der Traumwandler sein Schwert wegstecke, ließ Leyara den Schwertarm hängen. Mit der rechten Hand wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
“Gut. Jetzt wechselst du bitte auf Zuruf von der einen Verteidigung in die andere.”
Leyara schluckte, dann nickte sie. Sie richtete sich auf. Das Schwert fühlte sich mit einem Mal noch viel massiger an. Die ersten Muskeln in ihrem Arm und auch das Handgelenk beschwerten sich schon über die ungewohnte Belastung.
“Links unten! Mitte! Rechts unten! Rechts Mitte!”
Stolpernd kam Leyara den Aufforderungen nach. Der Traumwandler achtete jedoch nicht auf eine exakte Ausführung. Leyara sah sich in ihrer Vermutung bestätigt, dass in den Traumlanden der Kampf anders gelehrt und geführt wurde als in den beiden Reichen. Im Reich des Löwen hatte sie immer wieder mal Wachen mit äußerst genauen Bewegungen exerzieren gesehen. Der Graf hatte seine Wachen manchmal durch die Ortschaften geschickt, um den Eindruck zu erwecken, er würde sich um seine Ländereien kümmern. Am Hof von Königin Leoni hatte sie auch Wachen exerzieren sehen, aber nicht wirklich auf diese geachtet.
“Genug.”
Der Traumwandler warf einen Blick zu den kleinen Fenstern im oberen Bereich der Halle. Helles Sonnenlicht fiel herein. Er nahm ihr das Schwert aus der Hand.
Verschwitzt und keuchend stützte sich Leyara mit zitternden Händen auf ihre Knie. Der Traumwandler nickte, als habe sich eine Vermutung bestätigt.
“Ab morgen werden wir zuerst an deiner Ausdauer arbeiten und dann mit den Übungen weiter machen. Du bist für heute entlassen, Leyara.”
Er führte Leyara zur Tür. “Ich erwarte dich morgen früh wieder hier.”
“Ja, Meister –?”
“Mein Name tut nichts zur Sache. Je weniger du über mich weißt, desto einfacher wird es dir später fallen, mir im Kampf gegenüberzutreten. Wenn du dich gut machst, sage ich dir meinen Namen vielleicht, wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist. Und damit meine ich eine richtige Ausbildung, nicht dieses überstürzte Lernen aufgrund des Tiefschlafs!”
Damit schloss der Traumwandler die Tür zur Halle mit einem Knall hinter Leyara.
Etwas verwirrt sah Leyara auf die Tür. Sie riss sich los und machte sich auf den Rückweg zu Timotheus Haus. Nach einigen Umwegen kam sie endlich an. Traumwandler Jan erwartete sie bereits mit einer Tasse Tee und einem dampfenden Teller Eintopf.
Nach dieser Mahlzeit ging Leyara ins Studierzimmer. Lazar war über eine Karte gebeugt, die auf einem dunklen Eichentisch lag. Der Älteste saß in einem Sessel, erhob sich aber mühsam, als er Leyara sah.
“Im Gegensatz zu unserer Welt befinden sich die Ländereien der Träume in ständigem Wandel”, begann Ältester Timotheus direkt ohne weitere Einleitung und trat an den Tisch. “Wir haben nur eine grobe Vorstellung von ihrer eigentlichen Größe. Distanzen und auch Landmarken verändern sich, werden größer oder kleiner. Außerdem kommt Neues hinzu und Altes verschwindet.”
Er deutete auf die Landkarte.
“Diese Karte ist daher nur eine Richtlinie und wird regelmäßig angepasst. Das Problem hierbei ist, dass jeder Mensch die Ländereien der Träume an einem anderen Ort betritt.”
“Kann sich der Eintrittsort eines Menschen selbst auch ändern?”, fragte Leyara und beugte sich über die Karte. An einigen Stellen wirkte die Zeichnung fast ausgefranst. An anderen waren viele Details verzeichnet. Insgesamt wirkte sie unfertig und deutlich ungenauer als die Karte, welche ihre Astrid auf ihre Reise mitgegeben hatte.
“In der Regel betritt ein Mensch immer denselben Ort oder nahe diesem. Es gibt wenige Ausnahmen, beispielsweise wenn jemand reist oder andere tiefgreifende Veränderungen in seinem Leben erfährt.”
Leyara richtete sich auf. Das Ziehen im Rücken wurde aber kaum besser.
“Also ist es normal, dass ich in meinen Träumen meist an unterschiedlichen Orten ankam?”
Lazar betrachtet Leyara neugierig. Als sei sie ein neues, ihm unbekanntes Insekt.
“Das ist sehr ungewöhnlich, Leyara”, sagte der Älteste. “Wie ich schon sagte, kann sich der Eintrittsort zwar ändern, aber meist geschieht das im Rahmen der genannten Ereignisse einmalig. Von mehr als einem Wechsel habe ich bisher nichts gehört. Du, Lazar?”
Lazar schwieg kurz, ehe er langsam und wohlüberlegt antwortete: “Nun, es ist nicht unmöglich, aber doch extrem selten und verteilte sich dann über die gesamte Lebensspanne. Bisher sind nur Traumwandler oder ‑wächter betroffen gewesen.”
“Leyara zählt ja nun zu den letzteren”, gab der Älteste zu bedenken.
Leyara sah zu Lazar hinüber, der nach einem kurzen Moment zögerlich nickte.
“Trotzdem sind nur sehr wenige Vorkommnisse bekannt. Ich erinnere mich an zwei Wandler und einen Wächter. Es kann jedoch auch Lücken in der Dokumentation in unserer Bibliothek geben. Ich kenne außerdem nicht jede Niederschrift.”
Es wirkte, als ob Lazar beide Punkte stören würden.
“Nun gut, das ist sicherlich ein interessantes Thema – vor allem, weil es dich betrifft, Leyara. Aber wir sollten uns jetzt trotzdem mit den Ländereien selbst befassen.”
Timotheus wandte sich wieder der Karte zu. Trotz ihres beginnenden Muskelkaters beugte sich Leyara wieder ein wenig mehr über den Tisch.
“Ich vermute, dass dein Bekannter in dieser Region wohnt.”
Er streckte seine Hand über einen Bereich zwischen einem Wald und einer Ebene aus.
“Hier”, er deutete auf einen daran anschließenden Bereich, “liegt die Hauptstadt der Ländereien. Diese Stadt verändert sich auch ständig, bleibt jedoch immer am selben Ort.”
Leyara nickte. Das war also die Stadt, von deren Anblick Leopold sie weggeholt hatte.
“Zur Hauptstadt lässt sich sagen, dass für sie sowohl Wachstum als auch Verkleinerung dokumentiert ist. Zusätzlich verändert sie ihr Aussehen. Manche Gelehrte vermuten deshalb einen Zusammenhang zwischen dem Herrscher der Traumwesen und der Hauptstadt. Das ist aber nicht belegt”, ergänzte Lazar. “Unter anderem, weil es sehr schwierig ist, etwas über diesen Herrscher in Erfahrung zu bringen.”
“Das Wissen über die Ländereien ist hauptsächlich von Traumwandlern zusammengetragen worden”, sagte Timotheus. “Traumwächter haben sich selten beteiligt, obwohl sie teilweise etwas engeren Kontakt mit Traumwesen hatten. Wobei ein Kontakt wie bei dir und deinem Bekannten sehr unüblich und eher nicht angestrebt ist.” Timotheus schüttelte leicht missbilligend den Kopf. “Allgemein ist der seltene Kontakt zu Traumwesen zwar schon zum Wissensaustausch genutzt worden – Probleme lassen sich in den Ländereien dadurch jedoch nicht lösen. Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass du das Kämpfen lernst. Es ist nicht nur Tradition, sondern scheint auch die einzige Sprache zu sein, welche die Traumwesen verstehen.”
Mitfühlend sah Timotheus sie an. “Dein Bekannter ist freundlich, aber das wird dir gegen den Tiefschlaf nur wenig helfen. Verlass dich nicht auf Traumwesen. Sie verfolgen doch nur ihre eigenen Ziele.”
Leyara nickte nachdenklich. Die beiden Traumwandler hatten sicherlich in vielerlei Hinsicht recht, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie das einzige freundliche Traumwesen getroffen hatte. Auf der anderen Seite war ihre Beziehung etwas sehr Persönliches – und sicherlich nichts, was sie so für die Nachwelt würde festhalten wollen. Sie vermutete, dass es anderen Traumwächtern ähnlich ergangen sein könnte. Warum sonst sollten sie so wenig beigetragen haben, obwohl sie die Ländereien und ihre Bewohner besser kannten?
Einige Zeit später holte Meisterin Mia Leyara ab und führte sie zu sich aufs Zimmer.
“Wir werden in meinen Träumen mit den Übungen beginnen, Leyara. Gemäß deinen Erzählungen siehst du häufig Albtraumwesen, welche wir für unsere Übungen nicht gebrauchen können.”
Gemütlich setzte sich die Meisterin in einen Korbsessel. Leyara folgte ihrem Beispiel.
“Ich weiß nicht, wie oft du bisher die Hilfe eines Traumwandlers erhalten hast, Leyara”, sagte sie. “Die meisten Traumwandler legen ihre Hand auf die Stirn desjenigen, in dessen Traum sie eintauchen wollen.”
Leyara nickte. So hatte es Traumwandler Lukas zu Beginn ihrer Reise gemacht und auch Traumwandlerin Tijana im Reich der Bärin.
“Letztlich ist zwar Körperkontakt erforderlich. Das Handauflegen auf der Stirn hilft einem Traumwandler aber nur dabei, einschätzen zu können, ob der Hilfsbedürftige Fieber hat. So können sie bei Bedarf einen Heilkundigen hinzuziehen oder selbst fiebersenkende Kräuter zur Anwendung bringen.”
Meisterin Mia streckte Leyara eine Hand entgegen, welche diese ergriff.
“Lass dich einfach darauf ein. So, wie du dich auf deine eigenen Träume einlässt.” Die Meisterin lächelte. “Alle Traumwandler lernen am Ende ihrer Ausbildung, andere in ihre Träume mitzunehmen. Hauptsächlich, um andere auszubilden, aber darüber kann auch der traumlose Schlaf gegeben werden. Achte darauf, was du fühlst und was passiert. Wenn du dies wiederholst, wirst du selbst bewusst das Eintauchen herbeiführen können. Ich werde dir mit jeder Lehrstunde weniger beim Eintauchen helfen.”
Leyara schluckte. Kurz drückte sie die Hand der Meisterin, um ihre Bereitschaft zu signalisieren.
“Schließ die Augen.”
Leyara folgte der Aufforderung. Sie fühlte, wie etwas an ihr zog. Erst wehrte sie sich dagegen, ließ es dann aber geschehen. Es fühlte sich kurz so an, als ob sie über ihre Hand in Meisterin Mias Körper ging. Und plötzlich spürte sie Sonnenlicht auf ihren Armen.
Leyara öffnete die Augen. Meisterin Mia ging langsam über eine Wiese auf einen See zu. Leyara folgte ihr. Eine warme Brise wehte ihnen sanft vom See her entgegen und trug den Geruch süßen, köstlichen Wasser mit sich.
“Timotheus und Lazar werden dir wenig zu den Eintrittsorten gesagt haben”, sagte Meisterin Mia.
“Wir hatten kurz darüber gesprochen”, erwiderte Leyara und trat neben Mia.
“Ah, weil das bei dir ungewöhnlich ist.”
Leyara nickte.
“Nun, ich will dir das sagen, was wir allen Traumwandlern zu Beginn ihrer Ausbildung erzählen”, sagte die Meisterin. “Jeder Mensch hat seinen eigenen Eintrittsort. Dieser wird nicht bewusst ausgewählt, aber er ändert sich räumlich meist nicht. Der Eintrittsort hat meist zwei Seiten. Eine schöne wie diese Wiese hier und eine trockene, karge.”
Meisterin Mia pflückte eine Blume, deren Blütenblätter sich in ihrer Hand weiter entfalteten.
“Da diese beiden Orte oft sehr nah beieinander liegen, wird zwischen ihnen nicht unterschieden und der Einfachheit halber nur von einem Ort gesprochen.” Sie deutete nach rechts auf einige Büsche. “Hinter dieser Buschreihe liegt mein karger Eintrittsort.”
Mia wandte sich zu Leyara.
“Die kargen Landschaften sind häufig der Ausgangspunkt für Albträume, während die Oasen die Ausgangspunkte der schönen Träume sind. Es gibt Ausnahmen. Bei manchen sind die schönen Orte der Ausgangspunkt für Albträume. Manche haben wirklich nur einen Eintrittsort. Jeder dieser Orte verändert sich, wenn ein Träumer ihn betritt. Er passt sich der Fantasie und den Erlebnissen des Tages an. Kaum ein Träumer kann das Aussehen dieses Ortes gezielt ändern.”
Meisterin Mia winkte Leyara zu sich auf einen umgekippten Baum. Sie ließ die Füße ins kühle Nass des Sees hängen.
“Traumwandler lernen recht früh, dass sie ihre Träume kontrollieren können. Sie können oft schon als Kind Einfluss auf die Geschehnisse nehmen oder aber die Umgebung ihren Vorstellungen anpassen. Diese Fähigkeit wird während der Ausbildung geschult und je mehr ein Wandler sie beherrscht, desto besser kann er später Menschen bei ihren Albträumen helfen. Letztlich muss ein Wandler den Traum eines anderen beeinflussen – was sehr viel mehr Kraft und Kontrolle erfordert als bei einem eigenen Traum.”
Meisterin Mia sah Leyara an.
“Selbst ein gutes Kampfverständnis kann eine geringe Kontrolle im Traum eines anderen nicht wirklich ausgleichen – auch den Kampf muss man über die Kontrolle einbringen. Daher bleiben Wandler, die diese Fähigkeit nur unzureichend beherrschen, häufig in den Traumlanden oder kehren als reine Gelehrte in die Reiche zurück. Sie unterrichten und beraten, aber helfen selten oder gar nicht bei Albträumen.”
Leyara nickte. Melchior musste so ein Traumwandler gewesen sein, zu seinem Glück. Sonst wäre er wohl wie die anderen Traumwandler von Klein-Westfelden im Tiefschlaf.
“Als du in Windhall geschlafen hast, sind mehrere Meister in deinen Traum eingetaucht. Hier führt ein Wandler die Gruppe, oftmals derjenige mit der größten Fähigkeit, Kontrolle in einem fremden Traum zu übernehmen. Die anderen stellen ihm ihre Fähigkeiten zur Seite und folgen seinem Beispiel. Sie helfen im Kampf gegen Traumwesen, bei der Suche oder der Anpassung von gewissen Aspekten im Traum, meist von geringerer Bedeutung als die vom führenden Wandler durchgeführten Änderungen.”
Meisterin Mia ließ den Blick über den See schweifen.
“Viele dieser Aspekte des Wandelns wirst du nicht oder erst spät erlernen. Du hast eine schwere und sehr gefährliche Aufgabe übernommen. Ich werde dir helfen, die Ländereien der Träume zu erfassen. Anders, als Ältester Timotheus und Lazar es können. Ich habe die Karten und Bücher im Studierzimmer gesehen. Das ist theoretisches Wissen, aber es wird dir nur bedingt helfen. Du musst lernen, deine Träume deinen Wünschen anzupassen. In den Ländereien der Träume bist du nur so mächtig, wie du es dir selbst vorstellen kannst.”
Mit ernstem Blick sah Meisterin Mia Leyara an.
“Lass nicht zu, dass begrenzte Vorstellungskraft dich einschränkt. Dein bisheriges Wissen, das, was du ahnst und weißt, behindert dich. Auf unserer Reise nach Theodorfurt sagtest du mir, dass du beobachtet und kombiniert hast, woran wir Tiefschlaf fest machen. Diese Art zu Denken wird deine größte Stärke sein. Vergiss das nie!”
Leyara nickte.
“Gut, dann fangen wir jetzt mit den Übungen an. Ich möchte, dass du etwas in diesem Traum veränderst. Etwas Kleines reicht hier. Lass ein Tier auf die Wiese kommen, den Wind aus einer anderen Richtung wehen. Stell dir ein Werkzeug oder andere Gegenstände vor.”
Kapitel 2
Eine Stunde später saß Leyara erschöpft in ihrem Zimmer. Ihre Arme schmerzten vom Training am Morgen. Ihre Augen brannten vom Lesen Karten und Büchern am Nachmittag. Und ihr Kopf pochte schmerzhaft von den Konzentrationsübungen mit Meisterin Mia. Dabei war es ihr nicht gelungen, die Aufgaben der Traumwandlerin zu erfüllen. Gerade mal ein Grashalm auf der Wiese hatte sich bewegt – und auch das hätte der Wind sein können.
Aber Meisterin Mia war nicht enttäuscht gewesen. Niemand konnte in den ersten Stunden viel in Träumen ändern, hatte sie erklärt. Insbesondere nicht in fremden und dort war Leyara gewesen.
Nachdenklich massierte sich Leyara eine Schulter. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie genau sie in ihrem Traum Timotheus befreit hatte. So ganz wollten die Bilder und das Geschehen aber nicht zurückkommen. Sie wusste, sie hatte sich auf die Waffen und ihr Ziel konzentriert – und getroffen. Aber es war nichts Besonderes gewesen. Insbesondere ihren letzten Angriff konnte sie sich nur schlecht ins Gedächtnis rufen.
“Essen ist fertig!”, rief Jan von unten.
Frustriert schüttelte Leyara den Kopf und ging nach unten. Am Gespräch beteiligte sie sich nicht. Jonathan beobachtete sie aufmerksam, beinahe besorgt. Mehr als ein schwaches Lächeln konnte Leyara nicht für ihren besten Freund aufbringen. Es schien ihn nicht zu beruhigen, obwohl er nichts sagte. Leyara wusste, dass ihre Entscheidung ihn störte. Vermutlich würde er später versuchen wollen, sie umzustimmen. Wenn genug passiert wäre, was er aus seiner Sicht als Argument nutzen könnte.
Jan weckte Leyara früh. Rasch aß sie eine Scheibe Brot mit etwas Käse, ehe sie sich auf den Weg zum Kampftraining machte. Dort wartete bereits der Meister auf sie. Nach einigen Dehnübungen rannten sie in ausdauerndem Lauf gemeinsam durch Theodorfurt. Die kalte Luft brannte Leyara in den Lungen, während der Meister unbeeindruckt voran lief.
Als sie wieder bei der Trainingshalle ankamen, stützte sich Leyara keuchend an der Wand des Hauses ab. Sie zitterte leicht vor Kälte und Erschöpfung. Derartige Übungen waren neu für sie, in ihrer Heimat hatte sie selten aus Spaß Sport getrieben und ihre Kraft für die tägliche Arbeit aufgehoben. Und während ihrer Reise war die körperliche Betätigung gänzlich anderer Natur gewesen.
“Gut. Trink einen kleinen Schluck, dann gehen wir die Übungen von gestern durch”, sagte der Meister und winkte sie in die Halle.
Nachdem sie ein paar Schlucke eisigen Wassers getrunken hatte, reichte der Meister ihr ein Holzschwert. Erneut folgte Leyara seinen Anweisungen und ging von einer Verteidigungsposition in die nächste. Der Meister verbesserte sie häufig. Mit der Zeit und vielen Wiederholungen gelangen ihr die Übungen leichter. Irgendwann nickte der Meister zufrieden. Dann zeigte er ihr einfache, nach vorn gerichtete Angriffe, die sie unter seinem kritischen Blick unzählige Male wiederholte. Ihre nachlassenden Kräfte waren dabei nicht hilfreich.
Nach ungefähr zwei Stunden ließ der Meister sie pausieren. Leyara brach regelrecht zusammen. Während sie kleine Schlucke aus einem Wasserschlauch trank, baute der Meister eine Kampfpuppe mit ausgestreckten Armen auf. Viel zu früh rief er Leyara zu sich zurück.
Als Leyara die Puppe das erste Mal traf, drehte sich diese schwungvoll, traf sie mit dem anderen Arm und schleuderte Leyara zur Seite. Auf ihrer Stange wackelnd schien sie Leyara zu verhöhnen.
“Das Training mit der Attrappe ist schneller als die bisherigen Übungen. Je kräftiger du sie triffst, desto rascher kommt dir der andere ‘Arm’ entgegen”, belehrte sie der Meister. Er winkte mit der Hand und forderte er sie auf, sich der Kampfpuppe erneut zu stellen.
Bis Jan Leyara zum Mittagessen abholte, hatte Leyara es nur drei Mal geschafft, die Kampfpuppe zu parieren. Den darauffolgenden erneuten ‘Angriff’ hatte sie jedoch in keinem Fall abwehren können. In den Schultern spürte sie die Treffer der Kampfpuppe und auf der rechten Wange hatten sie eine lange Schramme. Niedergeschlagen folgte sie Jan zu Timotheus’ Haus.
“Die ersten Stunden im Kampfunterricht sind nie leicht. Und du hast eine viel intensivere Beschulung als jeder andere”, versuchte Jan sie zu ermutigen. “In den ersten Jahren der Ausbildung haben Wandler üblicherweise drei Stunden Kampfunterricht in der Woche. Und im ersten Jahr fast ausschließlich ohne Attrappe, vielleicht einmal gegen andere Schüler – deren Kenntnisstand natürlich dem ihren entspricht.”
Jan legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Leyara sah ihn an.
“Der Kampf gegen die Attrappe ist anfangs wirklich sehr schwer. Er wird irgendwann einfacher, wenn man die Bewegungen der Puppe besser kennengelernt hat und sich darauf einstimmen kann. Dein Lehrer ist bekannt dafür, dass er seine Schüler diese Bewegungen selbst erfassen lässt. Er sieht es als Übung für spätere Kämpfe, wo man auch nicht weiß, wie der Gegner auf einen Angriff reagiert. Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass viele Kämpfer Mustern folgen oder bestimmte Taktiken bevorzugen. Wenn man diese versteht, hat man eine viel bessere Chance gegen sie.”
Leyara nickte. Sie hoffte, dass sie sich am nächsten Tag an diesen Rat erinnern und die Bewegungen der Puppe besser verstehen würde.
In Timotheus’ Haus wartete bereits Lazar auf sie.
“Iss etwas, dann setzen wir unsere Arbeit von gestern fort. Ältester Timotheus ist beim Rat und spricht mit ihnen über dich und deine Ausbildung.”
Beklommen nickte Leyara. Lazar war ihr ein wenig unheimlich. Er besaß großes Wissen, wirkte jedoch sehr jung und unerfahren. Am Vortag war ihr aufgefallen, dass Timotheus immer wieder eingriff, wenn Lazar zu theoretisch wurde – oder gesellschaftliche Konventionen verletzte. Der Unterricht würde heute sehr anstrengend werden.
Erleichtert seufzte Leyara, als Meisterin Mia das Studierzimmer betrat. Lazar hatte die letzte Stunde beinahe wie in Trance Forschungsergebnisse rezitiert. Leyara hatte nicht einmal die Hälfte dessen verstanden, was er gesagt hatte. Trotzdem schwirrte ihr Kopf ob der Aufgabe, die sie übernommen hatte.
Irritiert blickte Lazar zu Meisterin Mia, dann erhob er sich und verabschiedete sich steif.
“Bitte, Leyara.”
In Meisterin Mias Zimmer setzten sie sich wie am Vortag gemütlich hin.
“Wir werden heute wieder in meinen Traum tauchen und die Übungen von gestern fortsetzen.” Mit einem Lächeln betrachtete die Meisterin Leyara. “Du machst dich gut, auch wenn du es nicht glauben magst. Es ist sehr schwierig, im Traum eines erfahrenen Wandlers etwas zu verändern. Lass dich davon nicht unterkriegen.”
Wieder waren sie auf der kleinen Wiese am See.
“Leyara!”
Verwundert sah Leyara sich nach der leisen Stimme um. Meisterin Mia saß entspannt auf dem umgestürzten Baum und schien nichts gehört zu haben.
“Leyara.”
Entschlossen stand Leyara auf. Meisterin Mia sah sie verwundert an.
“Was ist los?”
Leyara schüttelte nur den Kopf.
“Leyara!”
Langsam nervte die Stimme.
“LEYARA!”
Leyaras Kopf schmerzte leicht. Sie presste sich eine Hand gegen die Schläfe.
“Leyara! Was ist denn los?”
Meisterin Mia trat zu ihr und wollte ihr die Hand auf den Arm legen, als Leyara die mysteriöse Stimme erkannte.
Konzentriert dachte sie an die Hütte ihres Bekannten – und stand plötzlich genau davor.
“Leyara! Endlich! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen!”
Das Traumwesen eilte auf sie zu und drückte sie mit seinen drei Armen fest an sich.
“Wie ist es dir inzwischen ergangen? Bist du zu dem Traumwandler gekommen? Ich habe mir Sorgen gemacht!”
“Ich –”
“Ach, komm erst mal rein.”
Das Traumwesen schob sie durch die Tür in seine Hütte und dort auf sein Bett. Anschließend setzte es Tee auf, eine Hand am Wasserkessel, eine nach dem Tee wühlend. Mit der dritten Hand strich es leicht über Leyaras Haar.
“Du siehst sehr erschöpft aus.”
“Das bin ich auch. Ich bin aufgrund unseres Tricks gut in Theodorfurt angekommen. Dort ist der gerettete Traumwandler der Ratsälteste. Alle sind glücklich, dass Ältester Timotheus wieder wach ist.”
“Das glaube ich dir gern.”
Das Traumwesen setzte sich neben Leyara. “Aber das ist keine Erklärung für dein Aussehen.”
Erschrocken sah Leyara an sich hinab. An Armen und Beinen waren dort, wo kein Stoff sie verbarg, blaue Flecke zu sehen. Als sie sich mit der Hand über die Wange streifte, spürte sie dort die Schramme vom Vormittag. All diese Dinge waren auf der Wiese bei Meisterin Mia seltsamerweise nicht vorhanden gewesen.
“Ältester Timotheus und der Gelehrte Lazar haben mir gesagt, ich sei ein Traumwächter. Ich versuche noch, zu verstehen, was das genau ist.”
“Ich hatte es befürchtet und um unser beider Willen gehofft, dass dem nicht so ist.”
Leyara musterte ihren Freund aufmerksam.
“Traumwächter sind besondere Menschen. Aber das weißt du sicherlich schon.” Das Traumwesen schüttelte den Kopf. Es seufzte und schien einen Entschluss zu fassen. “Wie viel weißt du – Wie viel wissen die Traumwandler über das Leben der Traumwesen?”
“Es gibt verschiedene Bücher über euch”, setzte Leyara an. “Aber mir wurde gesagt, dass keine dieser Arbeiten oder auch nur Teile von ihnen durch andere Quellen belegt ist.”
“Es soll eine sehr genaue Abhandlung in der Welt der Menschen geben. Ich meine, der Autor wäre ein Traumwächter gewesen, der dies aber verbarg. Zu seiner Zeit gab es wohl zwei Traumwächter, welche dieselbe Krise zu bewältigen hatten”, sagte das Traumwesen. “Ich kann mich an den Namen leider nicht mehr erinnern.”
Er fuhr sich kurz durchs Haar.
“Lass es mich trotzdem kurz erklären: Traumwesen kommen ins Sein, wenn ein Mensch geboren wird. Unser Sein dauert in der Regel länger als ein Mensch lebt. Menschen und Traumwesen sind durch ihre Entstehung aber miteinander verbunden. Manche Traumwesen sind sensibler als andere und werden heftig getroffen, wenn ihr Mensch stirbt oder sein Leben in den Grundfesten erschüttert wird. Sie werden dann häufig zu den sogenannten Albtraumwesen, zumindest zeitweise. Letztendlich trauern sie aber nur, ohne zu wissen, warum. Sie können zusätzlich jedoch abhängig von Stoffen werden, die diese Trauer vergessen machen –”
“Diese kleinen Lichtkügelchen, die schreien?”, unterbrach Leyara ihn.
“Unter anderem”, antwortete das Traumwesen erstaunt. “Woher weißt du das?”
“Ich habe Albtraumwesen davon essen sehen.”
“Dann bist du sehr nah an sie herangekommen.”
Das Traumwesen reichte Leyara eine Tasse Tee und nahm sich selbst eine.
“Albtraumwesen können auch auf andere Arten entstehen. Sie verlieren einen Freund unter den Traumwesen, erleben selbst gravierende Änderungen in ihrem Leben – oder nehmen einfach zu viel süße Energie zu sich.”
“Süße Energie?”
“Diese schreienden Kügelchen.” Das Traumwesen schwieg kurz. “Traumwesen können sich auf vielerlei Weise ernähren. Du weißt selbst, dass ich hier Nahrung anbaue. Das ist der arbeitsintensivste Weg und versorgt uns trotzdem nicht mit allem, was wir zum Sein benötigen. Der einfachste Weg ist, die Energie der Menschen als Nahrung zu nutzen. Hierbei werden, vereinfacht gesagt, die Gefühle der Menschen in ihren Träumen ‘eingefangen’ und dann entstehen diese Kügelchen.”
“Also essen sie menschliche Gefühle?”
“Ja – und nicht nur irgendwelche Gefühle. Jedes Gefühl hat einen unterschiedlichen Energiegehalt, Geschmack und so weiter.” Das Traumwesen lächelte leicht. “Auch ich muss derartige Kügelchen zu mir nehmen und sie entsprechend gewinnen – aus deinen Träumen.”
Leyara lief rot an.
“Du brauchst keine Angst zu haben. Es passiert dir nichts, dir wird nichts genommen. Es wird nur die durch die Gefühle freigesetzte Energie eingefangen.”
“Bin ich –” Leyara schluckte. “Bin ich denn ein guter Energielieferant?”
Sie war neugierig und fühlte sich gleichzeitig etwas abgestoßen.
“Wenn es nach dem Energiegehalt geht? Das kommt auf den Blickwinkel an. Du schmeckst herb, vollmundig. Sehr angenehm.”
Leyara versuchte, sich nicht von diesen Aussagen ängstigen zu lassen. Sie atmete tief durch.
“Die schreienden Kügelchen entstehen aus Angst, Hass, Wut. Aus Gefühlen, die Menschen in schlechten Träumen haben. Die daraus gewonnene Energie ist immer ein kurzer, heftiger Schub. Süß. Eine Nascherei in kleiner Menge. Aber genau das macht Traumwesen davon abhängig. Außerdem hält diese Energie nicht lange vor. Ein Traumwesen braucht also viel mehr davon als von ausgeglichenen Gefühlen”, sagte das Traumwesen. Er seufzte leicht und schüttelte bedauernd den Kopf. “Zum Teil sogar sehr viel mehr.”
Leyara wollte gerade antworten, als sie merkte, dass ihr Körper geschüttelt wurde.
“Ich – ich muss gehen. Vermutlich werden die Wandler mit mir schimpfen.”
“Erzähl ihnen nichts von dem, was ich dir gerade gesagt habe. Das ist ein Wissen, das Wandler normalerweise nicht haben. Du bist selbst darauf gestoßen, daher wollte ich es dir erklären. Wir reden ein anderes Mal weiter. Wir werden einander noch brauchen, ehe alles überstanden ist. Vertrau mir!”
Er drückte ihre Schulter.
Leyara nickte – und öffnete die Augen.
Kapitel 3
“Leyara! Alles in Ordnung? Was ist passiert?”
Leyara hob die Hand, um ihre Augen gegen das Licht zu schützen. Jemand zog rasch eine Gardine zu, sodass es nicht mehr so grell war.
Meisterin Mia saß neben Leyara. Man hatte sie auf das Bett gelegt. Timotheus und Jan waren ebenso im Raum wie Jonathan, der gerade von den Fenstern zurücktrat.
“Ja”, sagte Leyara und musste sich räuspern. “Ja, mir geht es gut.”
“Wo warst du? Du bist plötzlich einfach verschwunden.”
“Ich sollte doch deinen Traum verändern”, sagte Leyara und versuchte von der Frage ihres Verbleibs abzulenken.
Die Traumwandler hatten Leyara direkt am Anfang des Unterrichts aufgefordert, sie mit ihren Vornamen und Du anzusprechen. Leyara hatte sich darüber gewundert, da alle Traumwandler in Ausbildung das respektvolle Sie und “Meister” oder “Lehrer” nutzten, aber Timotheus hatte ihr erklärt, dass sie die Traumwächterin damit ehren wollten. Dennoch schaffte es Leyara nicht bei allen Traumwandlern, diese formlose Anrede zu verwenden.
“Ja, verändern”, sagte Mia streng. “Nicht einfach verschwinden.”
“Ich –”, begann Leyara.
“Nun, wir wissen jetzt, dass du auch in Träumen anderer reisen kannst. Das hast du vermutlich gemacht?”, fragte Timotheus und wartete auf Leyaras Nicken. “Das heißt zumindest, dass du Kontrolle in Träumen ausüben kannst. Auch wenn du es heute vielleicht nicht mit Absicht getan hast. Jetzt musst du lernen, das bewusst und zielgerichtet zu tun”, meinte Timotheus beruhigend. “Ein wirklicher Ortswechsel ist eine sehr starke und für träumende Menschen nicht ganz ungefährliche Veränderung, immerhin verlassen sie dabei ihren Eintrittsort. Die meisten Traumwandler gestalten die Umgebung um, machen sie freundlicher oder für den Träumenden angenehmer, aber ein richtiger Ortswechsel ist das nicht. Das wirst du aber auch noch lernen. Die Fähigkeiten hast du!”
Leyara ließ den Kopf hängen. Ihr Freund hatte sie gebeten, nichts aus ihrem Gespräch preiszugeben. Aber wenn sie von ihm erzählte, würden die Traumwandler wissen wollen, warum sie so lange dort geblieben war. Nein, es war besser, sie behielt den Besuch bei dem Traumwesen für sich. Zu ihrer Erleichterung fragte niemand, wo genau sie gewesen war.
“Ich war heute Nachmittag beim Rat”, erzählte Timotheus. “Du sollst morgen Vormittag vor deinem Kampfunterricht vorbeikommen. Die Übungszeit wird entsprechend verkürzt. Der restliche Rat hat bereits von mir die wichtigsten Punkte genannt bekommen und folgt unserer Einschätzung. Sie haben deiner Unterweisung auch schon zugestimmt – vorbehaltlich der Entscheidung des Gesamtrates, sofern die Ratsmitglieder noch nicht in den Tiefschlaf gefallen sind.”
“Können wir bis zu dieser Entscheidung etwas Zeit einplanen, die ich in der Bibliothek verbringen kann?”, fragte Leyara, an den Hinweis ihres Freundes denkend.
Timotheus betrachtete sie mit gerunzelter Stirn.
“Lazar, Mia und ich können dich alles lehren, was du für deine Aufgabe benötigst.”
“Das wollte ich auch nie anzweifeln, Ältester Timotheus. Ich möchte gern etwas über Traumwächter erfahren. Dazu würde ich diese Zeit nutzen wollen”, erklärte Leyara respektvoll.
“Nun, ganz abwegig ist es nicht, dass du als Traumwächterin etwas über Traumwächter im Allgemeinen lernen solltest. Wir können es sicherlich in unsere Unterweisung mit einbeziehen.”
“Ich möchte Euch nicht zu nahetreten, Ältester”, mischte sich Jonathan zaghaft ein. “Aber ich denke, dass das geschrieben Wort eines Traumwächters Informationen anders übermittelt als Ihr es in Erzählungen könnt. Nicht, weil Ihr ein schlechter Lehrer seid, sondern, weil Ihr kein Traumwächter seid. Und vielleicht gibt es dort Kleinigkeiten, die wichtig sind, die Ihr aber nicht kennt oder aufgrund Eures Wissens als Traumwandler als nichtig erachtet.”
Dankbar lächelte Leyara ihren besten Freund an.
“Ich kann deine Argumente nicht ganz von der Hand weisen, Jonathan.”
Vollends überzeugt wirkte Timotheus noch nicht, als er sich an Leyara wandte.
“Wenn es dir so wichtig ist, werde ich dafür sorgen, dass du vor dem Mittagessen jeden Tag eine Stunde in der Bibliothek verbringen kannst. Morgen wird Lazar dir zeigen, wie du die wenigen Werke der Traumwächter findest. Sie sind häufig mit den Werken anderer Autoren gemischt, da sie ähnliche Themen behandeln.”
Nach einer erneut traumlosen Nacht saß Leyara zusammen mit Timotheus im Esszimmer. Von den anderen war noch niemand wach und Jan hatte angekündigt, dass er heute erst spät da sein würde. So hatte Leyara das Frühstück vorbereitet.
Schweigend aßen sie. Timotheus war bereits nach einer halben Scheibe Brot satt, ließ Leyara jedoch Zeit. Er hatte sich zurückgelehnt und blies vorsichtig auf seinen heißen Tee.
Leyara bestrich sich gerade die dritte Scheibe Brot mit Schmelz, als Jonathan den Raum betrat.
“Du isst in letzter Zeit deutlich mehr, Leyara.”
“Ich brauche jedes bisschen Energie, das ich bekommen kann. Der Kampfunterricht ist anstrengend und davor lässt mich der Meister noch durch Theodorfurt rennen.”
Jonathan holte sich rasch eine Tasse aus der Küche und füllte sie aus der Teekanne auf dem Tisch.
“Wenigstens einer von uns beiden langweilt sich nicht.”
Der Älteste sah von seinem Tee auf. “Du könntest bei den Überwinterungsvorbereitungen auf den Feldern helfen, die hier gerade erst beginnen. In den Traumlanden wird es zwar bei weitem nicht so kalt wie im Reich des Löwen, aber trotzdem liegt hier regelmäßig etwas Schnee.”
Jonathan überlegte kurz, dann nickte er.
“Dann werde ich einen der Bauern bitten, dich abzuholen. Er wird dir zeigen, wo du helfen kannst.”
Jonathan nahm sich ebenfalls eine Scheibe Brot und belegte sie mit Käse.
Leyara aß noch eine vierte Scheibe Brot. Dann verließ sie gemeinsam mit Timotheus das Haus, um den Rat aufzusuchen.
Verglichen mit Windhall war das Ratsgebäude von Theodorfurt karg zu nennen. Es war aufgrund der Größe der verwendeten Steine sowie der Größe des Gebäudes an sich zwar imposant, aber die Erbauer hatten keine zusätzlichen Verzierungen angebracht. Während der späteren Verwendung waren auch keinerlei Dekorationselemente hinzugefügt worden.
Timotheus Gehstock hallte bei jedem Schritt laut durch die Eingangshalle. Leyara folgte dem Ältesten einen Gang hinunter. Timotheus öffnete eine kleine Tür und ließ ihr den Vortritt.
Überrascht blieb Leyara kurz stehen. In dem runden Saal könnten alle Händler eines Markttages und ihre Besucher Platz finden! Sie sah die Ränge nach oben. Selbst von ganz hinten musste man einen guten Blick auf das Geschehen in der Mitte haben.
“Timotheus!” Eine Traumwandlerin trat zu Timotheus, der inzwischen mittig Saal stand. In ihren Augen lag Sorge.
Rasch trat Leyara zu Timotheus und bleib kurz hinter ihm stehen.
“Jared und Sonja fehlen noch, dann sind wir vollständig.”
Sie wandte sich an Leyara. Ihr Lächeln wirkte freundlich, aber die Falten auf der Stirn wollten nicht dazu passen.
“Du musst Leyara sein. Herzlich Willkommen in Theodorfurt! Im Namen des gesamten Rates möchte ich dir für die Rettung von Timotheus danken. Es war ein ziemlicher Schreck für uns, als unser Ältester in den Tiefschlaf fiel.”
Leyaras Wangen glühten.
“Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt, Ehrwürdige.”
“Nana, so bescheiden. Wenn man das nur von manchen unserer Schüler sagen könnte …”
Die Traumwandlerin führte Leyara zu einem gemütlichen Stuhl, während Timotheus kurz mit einem anderen Traumwandler sprach.
“Wir werden dich heute nicht darum bitten, deine ganze Geschichte zu erzählen”, sagte die Traumwandlerin. “Wir möchten dich nur ein wenig kennenlernen. Timotheus hat uns bereits von deinen Problemen in Windhall erzählt und wir wollen vermeiden, dass andere voreingenommen an die Sitzung des Gesamtrates herangehen. Daher erzähl uns nachher ein wenig von dir, damit wir dich als Menschen – und nicht als zukünftige Traumwächterin – kennenlernen können.”
Leyara schluckte, dann nickte sie.
Ein anderer Traumwandler verteilte gerade Tassen und reichte auch Leyara eine.
“Kräutertee oder Kakao?”, fragte er und hielt zwei dampfende Kannen hoch.
“Was ist Kakao?”
“Wenn du das nicht kennst, solltest du es unbedingt probieren. Es ist eine Spezialität hier in den Traumlanden und außerhalb wenig bekannt.” Der Traumwandler füllte ihre Tasse mit einem dickflüssigen, braunen Trank.
“Lass es dir schmecken.”
Vorsichtig nippte Leyara an ihrem Getränk und war von der süßlichen Schwere überrascht. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares geschmeckt.
Timotheus kam auf seinen Stock gestützt zu ihr herüber.
“Wir warten nur noch auf Jared, er ist oft etwas spät dran.”
Er schnupperte kurz.
“Ah, Kakao. Wenn es dir gefällt, denke ich, dass Jan dir die Herstellung erklären kann. Er liebt dieses klebrige Zeug. Es gilt als Delikatesse und ist recht schwierig zu gewinnen. Einige Bauern arbeiten daran, die dafür benötigten Pflanzen zu kultivieren. Bisher können die Zutaten nur von wilden Pflanzen hier in den Traumlanden gesammelt werden.”
Er nickte zu einem Stuhl hinüber.
“Ich werde mich auf meinen Platz begeben. Deine Vorstellung ist der erste Punkt auf der Tagesordnung. Wenn du fertig bist, darfst du den Saal verlassen. Dein Kampflehrer weiß Bescheid und wartet draußen auf dich.”
Leyara nickte und Timotheus ging langsam zu seinem Platz hinüber.
Wenig später war auch Jared eingetroffen. Im Anschluss sollte Leyara über ihr Leben sprechen. Wie sie aufgewachsen war, was sie für Erfahrungen gesammelt hatte. Ihre Wandlerfähigkeiten und die Reise kamen nicht zur Sprache.
“Ich danke dir, dass du so offen mit uns gesprochen hast”, sagte eine Traumwandlerin. “Dein Leben bis heute war sicherlich nicht einfach. Aber wir verstehen dich jetzt deutlich besser. Das wird dir viel Erklärungsarbeit in der Gesamtratssitzung abnehmen. Wir als Rat von Theodorfurt werden Erklärungen liefern, wenn Mitglieder anderer Stadträte tiefer nachfragen. Du bist Befragungen nicht gewöhnt und wir brauchen dich bei voller Stärke. Eine Befragung würde dich zu viel Zeit kosten.”
Die Sprecherin nickte dem Ältesten zu.
“Es war eine sehr gute Idee von dir, Timotheus, dass wir Leyara vor der Gesamtsitzung kennen lernen. Ich gehe davon aus, dass ich für alle spreche, wenn ich sage: Deine Bedenken sind gerechtfertigt.”
Damit war Leyara entlassen. Nachdenklich verließ sie den Saal. Was für Bedenken?
Der Unterricht war sehr anstrengend, brachte aber aus Leyaras Sicht nur wenig Fortschritte. Die Bewegungen waren komplex und immer wieder vergaß sie die Reihenfolgen. Irgendwie hatte sie sich das leichter vorgestellt. Erleichtert folgte sie Lazar zur Bibliothek, als dieser sie nach zwei Stunden abholte.
Als Lazar sie über den Vorhof ins Gebäude führte, wurde ihr bewusst, wie viel Wissen hier aufbewahrt wurde. Die Bibliothek von Windhall hätte mehrfach in diesem einen Gebäude Platz gefunden – und es schien mehrere Nebengebäude zu geben.
“Theodorfurts Bibliothek gehört zu den größten Bibliotheken Moreias. Es sind viele Schutzmechanismen installiert worden, um den Verlust von Werken durch Unfälle zu vermeiden”, sagte Lazar.
Leyara fragte sich, was für Unfälle Lazar meinte. Sie traute sich aber nicht, ihn zu fragen. Er würde nur wieder ununterbrochen reden und ohne jemanden, der seinen Wortschwall zügelte…
Lazar grüßte den Traumwandler, der am Empfang saß.
“Der Rat hat dir auf Timotheus Bitte hin bereits gestern vollen Zugang gewährt. Ich werde dich daher allen Bibliothekaren vorstellen. Du kannst sie jederzeit um Hilfe bitten.”
Lazar eilte einen Gang hinunter. Leyara gab sich Mühe, Schritt zu halten.
“Wichtig ist, dass du die Werke immer in den dafür vorgesehenen Leseräumen studierst. Dort gibt es ausreichend Licht und ein niedriges Brandrisiko. Schließ immer alle Türen hinter dir. Wenn du irgendwo eine offene Tür siehst, dann mach sie zu. Ihr Holz ist derartig ausgewählt, dass auch ein Brand in einem angrenzenden Raum sie nicht zerstören kann. Es gibt natürlich noch mehr Maßnahmen allein die Türen betreffend”, dozierte Lazar in seiner trockenen Art, der ausnahmsweise leichte Begeisterung anzuhören war.
Leyara genoss die ruhige, achtsame Atmosphäre der Bibliothek, während Lazar sie durch die Säle führte. Gelegentlich sah sie einen Traumwandler, der vorsichtig ein Buch in einen Leseraum trug oder es zurück an seinen Platz brachte.
“Theodorfurt ist die Hauptquelle für alle anderen Bibliotheken in den Traumlanden, was neue Bücher anbelangt”, erklärte Lazar und deutete auf einige Fenster. Leyara blickte hindurch und sah Traumwandler, die in langen Reihen saßen und Bücher abzuschreiben schienen.
“Hier vervollkommnen viele Traumwandler ihre Fähigkeit zu schreiben”, fuhr Lazar fort. “Nur die saubersten Abschriften werden in andere Bibliotheken des Landes oder gar in eines der Reiche geschickt. Je unsauberer, desto eher landet das Buch bei den Auszubildenden oder muss gar entsorgt werden, da es nicht lesbar ist. Viele Traumwandler verbringen wenigstens sechs Monate, manche aber auch deutlich über ein Jahr in diesen Schreibstuben. Aber jeder will das Gefühl erleben, wenn seine Abschrift als gut genug empfunden wird, in eine andere Bibliothek zu gehen – erst dann darf er auch seinen Namen selbst unter den des Autoren setzen.”
Das sagen meine Leser
Leyara, die Hauptfigur dieses tollen Buches, macht eine Reise zu den Traumlanden, die immer mehr auch eine Reise zu sich selbst wird. Die spannung wächst mit ihrer Entwicklung und am Ende…
… nur nicht spoilern.
Bleibt nur eine Frage: Wo ist Band 2?
Spannung erzeugt die Mischung aus Reisebericht und den mystisch anmutenden Träumen (die haben mir besonders gut gefallen).
Wird Leyara den Traumwandlern helfen können? Wäre Band 2 der Trilogie schon verfügbar, ich würde ihn mir sofort kaufen.
Daumen hoch!
Man merkt schon, dass in diesem Band Leyara sich weiter entwickelt hat.
Ich fand den zweiten Teil auch wieder sehr spannend und fesselnd. Sehr schöne Charaktere. Man kann sich gut in sie hineinversetzten. Leider muss ich jetzt bis zum Sommer warten, bis der dritte Teil erscheint.
Das Buch ist so zusagen ein Fantasyreisebericht. Die zwei bereisen mehrere Länder und dabei kommt Leyaras Gabe nach und nach zum Vorschein. Die Erzählungen der Träume haben mir sehr gut gefallen. Eine durchaus spannende Geschichte. Ich bin gespannt, wie es in Band zwei weitergeht.
Toller erster Teil!
Neugierig geworden?
Erhältlich bei Amazon
Leyara und der König der Traumwesen
Leyara war erfolgreich: Der Tiefschlaf ist beendet und die Traumwandler sind gerettet! Doch statt Leyaras und Amys Taten zu loben, verurteilt der Rat ihr unkonventionelles Vorgehen. Er verdammt Leyara zur Heimatlosigkeit und verwehrt Amy die Arbeit als Traumwandlerin.
In den Ländereien der Träume ist die Krise zudem noch lange nicht vorüber: Die überlebenswichtige Gefühlsenergie wird immer knapper, die Traumwandler missachten das Abkommen mit den Traumwesen und unter den Anhängern des alten Königs herrschen Unruhen.
Auf der Suche nach einer Heimat und zur Rettung ihrer Freunde begibt sich Leyara auf eine Reise ins Ungewisse. Wird es Leyara gelingen, den Traumwesen ohne Unterstützung durch die Wandler zu helfen? Oder besteht noch Hoffnung für ein neues Bündnis?
Sneak Peaks
Leseprobe
Band 3 — Leyara und der König der Traumwesen
Hier kannst du einen Blick in das erste Kapitel werfen.
Viel Spaß beim Lesen. 🙂
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Das ist das neue Moreia
Psst … das wird noch nicht verraten
Kapitel 1
Drei Tage waren seit der Ratssitzung vergangen. Jener Sitzung der Traumwandler, die Leyaras und Amys Zukunft beendet hatte, ehe sie richtig begonnen hatte. Weil den Ratsmitgliedern einengende Traditionen zu wichtig waren und sie Veränderungen nicht annehmen wollten.
Mit einem Seufzen stand Leyara auf. Sie klappte das Buch zu, in dem sie bis eben gelesen hatte, und trug es zurück an seinen Platz. Amys Schreibstunde müsste inzwischen vorbei sein. Hoffentlich hatte sie sich diesmal mehr angestrengt.
Leyara fand Amy vor der Schreibstube mit einem anderen Traumwandler. Die beiden diskutierten leise, aber hitzig.
“Ah, Leyara!” Amy ergriff Leyaras Arm und wollte sie fortziehen.
“Alizia Myna!”, sagte der Traumwandler. “Du solltest wirklich an der Schreibprüfung in zwei Tagen teilnehmen.”
Amy winkte nur. Leyara nickte dem Traumwandler zu, ehe sie hinter Amy her stolperte. Er meinte es doch nur gut.
“Du kannst die Prüfung so bald wiederholen?”, fragte Leyara.
“Er fing heute plötzlich damit an.” Amy verlangsamte ihre Schritte. “Aber wenn ich nicht als Traumwandler arbeiten darf, welchen Sinn hat das alles dann?”
“Du solltest die Prüfung trotzdem ablegen!” Leyara warf einen Blick auf ihre Freundin. “Danach wärst du voll ausgebildet. Das ist viel wert.”
“Ach, ich weiß nicht.” Amy schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen.
“Lass uns zu Sina gehen”, schlug Leyara vor. Sie hoffte, die Bäckerin könnte Amy aufmuntern. Die Besuche hatte zwar in den letzten Tagen nicht viel geholfen, aber es war besser als in der Bibliothek zu sitzen. Irgendwann würde Lazar Leyara wieder darum bitten, ihre Geschichte zu Papier zu bringen. Damit hatte sie noch nicht begonnen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Traumwandler ihre Geschichte wirklich in die Bibliothek aufnehmen würden. Und wozu dann die Mühe? Schreiben war anstrengend und oft musste sie so lange rätseln, wie ein Wort buchstabiert wurde, bis sie den Satz vergessen hatte, den sie hatte formulieren wollen.
In der Backstube begrüßte Sina sie freundlich und schob sie weiter hinein. Auf einem Tisch standen schon zwei dampfende Tassen bereit. Leyara nahm sich eine davon und setzte sich auf einen Schemel.
Sina stellte sich wieder an ihren Arbeitstisch und nahm Teig aus einer Schüssel, den sie dann knetete. “Das kleine Gästehaus am Fluss wurde hergerichtet”, erzählte sie. “Der Rat scheint Gäste zu erwarten.”
Leyara nahm einen Schluck und genoss die schwere Süße des Kakaos. Was interessierten sie die Gäste des Rates?
Amy legte den Kopf schief. “Das Haus, in dem Klara und Mario gewohnt haben, ehe sie abgereist sind?”
Sina nickte. “Ich frage mich, ob auch diesmal wieder jemand mit den Gästen abreist.”
“Sind denn zuvor schon Bewohner mit ihnen gegangen? Ich kann mich nur an Klara und Mario erinnern”, fragte Amy.
“Meist reisen sie ohne Begleitung wieder ab”, sagte Sina und formte kleine Gebäckstücke.
“Und wohin reisen sie?”, fragte Leyara.
Amy zuckte mit den Schultern. “Das habe ich Klara damals auch gefragt. Aber sie hat es mir nicht gesagt.”
“Der Rat weiß es vielleicht”, sagte Sina. “Aber er sagt nie jemandem etwas.” Sie nahm das Backblech auf und trug es zum Ofen. “Über die Jahre sind immer mal wieder junge Traumwandler mit ihnen abgereist. Manchmal auch andere.” Sina schloss die Ofentür. “Vielleicht geht es um ein Projekt des Rates? Wer weiß das schon.”
Nachdenklich beobachtete Leyara, wie Sina das nächste Backblech füllte. Nun war ihre Neugierde doch geweckt. Wer waren diese Gäste? Wohin brachten sie diejenigen, die mit ihnen gingen? Sie schüttelte den Kopf. All dies war für sie nicht von Bedeutung. Selbst wenn der Rat Unternehmungen plante, warum sollte er dabei ausgerechnet sie mitberücksichtigen?
“Ihr solltet wirklich noch einmal mit dem Rat sprechen”, meinte Sina plötzlich.
“Das hat vor drei Tagen auch nichts gebracht”, wandte Amy ein.
“Es wird eine Lösung für euch geben”, sagte Sina mit fester Stimme.
“Aber was für eine?” Amy klang verzweifelt. “Soll ich hier als Bibliothekarin versauern? Ich möchte Menschen helfen! Oder forschen! Und was ist mit Leyara?”
Amy deutete auf Leyara und warf dabei beinahe ihre Kakaotasse um. “Sie hat alles riskiert. Und während ich zumindest eine Ausbildung besitze und hier Arbeit aufnehmen könnte, hat sie doch gar nichts.”
“Ich weiß.” Sina schüttelte traurig den Kopf. Sie holte die Gebäckstücke aus dem Ofen. Das zweite Blech schob sie nicht mehr hinein, sondern deckte es mit einem Tuch ab. Dann nahm sie ihre Schürze ab. “Ich muss noch Gebäck ausliefern. Bleibt ruhig hier sitzen und trinkt euren Kakao aus.”
Sina verließ das Haus.
Leyara sah Amy an. “Es tut mir so schrecklich leid, dass ich dir deine Zukunft kaputt gemacht habe!”
“Ich bin dir gefolgt, Leyara. Anfangs, weil ich dir helfen sollte. Aber was du getan hast, was du mir gezeigt hast …” Amy schüttelte den Kopf. “Das hat mich überzeugt. Und ich wusste, dass dein Vorgehen das Richtige ist, egal was der Rat hinterher sagte. Wir haben beide unser Leben riskiert. Und ja, der Kampf, den ich mit den Traumwesen führte, war gefährlich.”
Amy nahm einen Schluck Kakao, ehe sie fortfuhr: “Ypsal hatte mir erzählt, dass es nicht ungefährlich ist, lange in den Ländereien zu bleiben. Traumwandler, welche sich in den Ländereien sehr zuhause fühlen, können dort auch verletzt werden – ihre geträumten Körper – und müssen heilen. Und falls sie den Wunden erliegen oder getötet werden, kann es vorkommen, dass sie nicht mehr erwachen. Bei Wandlern, die ständig in Verbindung mit ihrem Körper stehen, kann das nicht passieren.”
Erschrocken sah Leyara Amy an. Dann hatte sie unwissentlich das Leben ihrer Freundin gefährdet! “Wirklich? Amy, wenn ich das gewusst hätte …”
“Wir haben das einzige Richtige getan, Leyara. Daran darfst du nie zweifeln.” Amy legte eine Hand auf Leyaras Unterarm. “Und wir alle, Traumwesen sowie Traumwandler, sind dir aus Überzeugung gefolgt. Weil sie an dich glaubten. Für jeden von ihnen warst du eine Freundin, du hast nie unterschieden zwischen Traumwandler und Traumwesen. Das macht dich so besonders, selbst im Vergleich zu Orakyl.”
Leyara versuchte zu lächeln und nickte Amy zu. Der Schreck hatte sie tief getroffen. Amys Worte konnten das nur wenig lindern. Was wäre, wenn alles anders gekommen wäre?
Einige Tage später wurde Leyara zum Rat gerufen. Sie war unsicher, ob sie der Einladung folgen sollte, entschloss sich dann aber dafür. Sie hatte ja sonst nichts zu tun.
Der Rat war fast vollzählig, als Leyara in den Saal geführt wurde. Timotheus saß nicht an seinem üblichen Platz, sondern etwas abseits. In der ersten Reihe saß ein Traumwandler, den Leyara noch nie gesehen hatte. Er erhob sich und trat auf sie zu.
“Traumwächterin Leyara!”, grüßte er sie. “Ich freue mich, Euch endlich persönlich kennen zu lernen. Als Ihr und Eure Verbündeten mich in den Ländereien der Träume befreit habt, konnte ich Euch nicht mehr danken, ehe ich erwachte. Ich bin Ratsmitglied Justus.”
Leyara betrachtete den Traumwandler neugierig. Er wirkte anders als jeder Wandler, den sie bisher gesehen hatte. Seine dunkle, ledrige Haut ließ vermuten, dass er viel Zeit im Freien verbrachte.
“Bitte, setzt euch!”, forderte Ratsmitglied Sonja alle auf, ehe Leyara antworten konnte. “Ruhe!”
Langsam begaben sich alle an ihren Platz, die leisen Gespräche wurden allmählich beendet.
“Gut.” Traumwandlerin Sina wandte sich an den Rat. “Dann können wir jetzt zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung über gehen. Danke, dass du gekommen bist, Leyara.”
Ratsmitglied Sonja sah zum Ältesten Timotheus hinüber, dann erteilte sie Ratsmitglied Willmut das Wort.
“Danke, Sonja”, sagte Willmut und erhob sich. “Lass mich dir ein wenig zur Geografie unserer Welt erzählen, Leyara.”
Leyara unterdrückte ein Seufzen. Geografie konnte sie auch in der Bibliothek lernen. Da Willmut aber auch einer ihrer Verbündeten in den Ländereien gewesen war und nie etwas ohne Grund getan hatte, hörte sie ihm trotzdem aufmerksam zu.
“Wie du weißt, liegt das Reich des Löwen im Norden.” Willmut malte mit einer Hand die Form des Reiches in die Luft. “Nördlicher ist nur die Eiswüste, welche unbewohnbar ist. Im Osten grenzt das Reich des Löwen an einen Ausläufer der Mauer. Südlich des Reiches des Löwen befindet sich das Reich der Bärin, welches sich zwischen dem Ausläufer der Mauer und der Mauer selbst auch ein Stück in den Norden erstreckt. Beide Reiche haben etwa die gleiche Größe und trotzdem das Reich der Bärin viel gebirgiges Gebiet enthält, sind beide Reiche ungefähr gleich produktiv.”
Willmut holte kurz Luft, dann fuhr er fort, eine Landkarte in die Luft zu malen. “Die Traumlande liegen südlich des Reiches der Bärin und sind fruchtbarer als die beiden anderen Reiche. Daher können wir hier sehr gut leben und ohne großen Aufwand neue Traumwandler ausbilden. Südlich der Traumlande liegt eine Wüste, und dahinter das Meer, das alle Reiche im Westen und die Traumlande auch im Osten umschließt.”
Er sah Leyara aufmerksam an. “In gewissem Maße wirst du das bereits gewusst haben.” Als Leyara nickte, fuhr er fort: “Viele denken, dass dies alle Länder sind, die Platz auf der Karte von Moreia haben. Aber das stimmt nicht. Es gibt ein viertes Land: Anderás.”
Leyara schnappte nach Luft. Warum offenbarte der Rat ihr das? Ihr fielen die Gerüchte ein, von denen Sina erzählt hatte. Konnte das die Lösung sein? Für sie und Amy?
Leyara blendete den restlichen Rat aus und sah gespannt auf Willmut. Sie hatte Fragen, wollte ihn aber nicht unterbrechen. Das mochte er nicht. Er würde ihr bestimmt noch Zeit geben, Fragen zu stellen.
“Anderás ist im Vergleich zu allen anderen Ländern recht dünn besiedelt. Mehr kann ich dir leider nicht sagen.” Ratsmitglied Willmut sah hinüber zu Ratsmitglied Justus. “Anderás hat uns um die Entsendung neuer Traumwandler gebeten, da zu wenige Kinder in den letzten Jahren die Fähigkeit zu wandeln gezeigt haben. Auch wenn du keine ausgebildete Wandlerin bist, möchte der Rat dir aufgrund von deinen Taten anbieten, nach Anderás zu reisen. Du hast bis morgen Zeit, dich zu entscheiden. Teile deine Entscheidung bitte Ratsmitglied Justus mit.”
Leyara saß wie betäubt auf ihrem Stuhl. Was war Anderás für ein Land? Wieso sagte Willmut nicht mehr dazu? Wie sollte sie entscheiden, ohne Näheres zu wissen? Aber war nicht alles besser, als die Rückkehr ins Reich des Löwen? Hatte sie denn eine wirkliche Wahl? Konnte etwas schlimmer sein, als sich wieder unterordnen zu müssen? Traumwandler Justus hatte einen freundlichen Eindruck gemacht. Vielleicht, ja, vielleicht war dieses Abenteuer ihre Möglichkeit, glücklich zu werden. Ansonsten konnte sie immer noch wie Orakyl in den Ländereien wohnen.
“Ich werde nach Anderás reisen”, sagte sie mit fester Stimme und schob den Gedanken an ihre Mutter beiseite, schloss ihn tief in sich ein.
Ratsmitglied Justus strahlte über das ganze Gesicht.
“Gut, dann ist das beschlossen”, sagte Willmut. Er klang erleichtert. “Ich möchte dir gern im Namen des gesamten Rates mitteilen, dass wir dir gern andere Optionen als diese angeboten hätten. Die Umstände erlauben es leider nicht.”
Leyara sah, dass einige Ratsmitglieder nicht gerade glücklich über diese Aussage waren. Sie wusste, dass manche ihre Taten unterstützen und andere sie dafür verurteilten. Beide Gruppen konnten mit dieser Lösung nicht einverstanden sein.
“Bitte such deine Sachen zusammen”, sagte Willmut. Er lächelte Leyara aufmunternd an. “Ratsmitglied Justus wird dich in einer Stunde beim Haus des Ältesten Timotheus abholen.”
Leyara nickte, dann erhob sie sich und verließ das Ratsgebäude.
In ihrem Zimmer sammelte sie ihre Sachen zusammen. Viel war es nicht. Die meisten ihrer Botinnenkleider waren im Reich der Bärin einbehalten worden. Zuvor hatte Astrid schon den Großteil der Kleider getauscht. Und in den Traumlanden war sie nicht lange genug gewesen, um neue Dinge zu benötigen. Der Stapel belief sich daher auf zwei Hosen, vier Hemden unterschiedlicher Machart und Farbe sowie Unterwäsche. Dazu legte sie ihre weiche Haarbürste. Und ihre größten Schätze: Das Buch von Astrid und die Karte. Rasch packte sie alles in einen Rucksack. An diesem befestigte sie den ledernen Schlafsack und die Reisekochutensilien, die ihr geblieben waren. Jonathan, von dem sie sich nicht mehr hatte verabschieden können, hatte den Großteil des ursprünglichen Reisegepäcks zurückgelassen.
Leyara ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Er war ihr eine Heimat geworden – und irgendwie auch nicht. Seit dem Ende des Tiefschlafs benahm sich Ältester Timotheus ihr gegenüber so ablehnend, sodass sie froh war, aus seinem Haus auszuziehen.
Es klopfte an der Tür und Amy steckte den Kopf herein.
“Müsstest du nicht in deiner Lerneinheit sein?”
“Ich hatte heute Morgen eine vorgezogene Prüfung … Und habe sie bestanden!”
Ein strahlendes Grinsen breitete auf Amys Gesicht aus.
“Ich gratuliere dir, Amy! Das freut mich!”
“Und du? Willst du uns verlassen?” Amy musterte den Rucksack.
“Ich war vorhin beim Rat”, erklärte Leyara. “Sie haben eine Lösung für mich gefunden. Ich werde in Kürze von Ratsmitglied Justus abgeholt.”
“Du auch?”
Verblüfft sah Leyara Amy an.
Die strahlte. “Dann haben sie dir auch angeboten, nach Anderás zu gehen?”
“Ja. Weißt du, wo Anderás ist? Wie es ist?”
“Nein, ich weiß gar nichts, außer dass sie Traumwandler suchen und es ihnen dort relativ egal ist, wenn man unkonventionell vorgeht. Man darf nur keine Vorgeschichte haben, wie Arthur sie inzwischen hat. Wurde mir in der Sitzung mitgeteilt. Wegen meiner Zusage wurde die Prüfung vorgezogen.”
“Dann haben wir beide einer ungewissen Zukunft zugestimmt.”
“Alles ist besser, als kein Traumwandler sein zu dürfen!”
“Wollen wir es hoffen.” Leyara schulterte ihren Rucksack und trat auf den Flur. Amy stand reisefertig vor ihr und hob gerade einen großen Rucksack hoch. Vor ihrem Zimmer lagen mehrere große, schwere Taschen.
“Was hast du denn alles eingepackt? Da brauchen wir ja einen Karren nur für dein Gepäck!”
Amy sah Leyara erstaunt an. “Wieso?”
“Das kannst du doch nie und nimmer auf deinem Rücken oder einem Pferd transportieren.”
Amy schüttelte den Kopf. “Und wo sind deine Sachen? Nur der Rucksack? Das kommt mir so wenig vor.”
“Ja, nur der Rucksack. Ich habe nie viel besessen und es ist auf der Reise nicht mehr geworden.”
“Amy? Leyara?” Ein angenehmer Bariton war von unten zu hören. “Seid ihr fertig mit packen?”
“Ja, wir kommen”, rief Leyara.
Sie griff sich zwei von Amys Taschen und schleppte sie die Treppe hinunter. Im Flur standen bereits zwei Taschen. Amy stolperte ihr hinterher.
Ratsmitglied Justus erwartete sie.
“Beeilt euch, ich will in der Gastherberge ankommen, ehe Ältester Timotheus daheim ist. Ratsfrau Sonja hält ihn eine kleine Weile auf, aber lange wird das nicht dauern.” Er sah sich das Gepäck an. Wortlos ergriff er die zwei Taschen, die im Flur standen. Anschließend führte er sie mit raschen Schritten durch Theodorfurt. Leyara konnte kaum Schritt halten und auch Amy keuchte schwer, als er ein kleines Häuschen in einem nahe der Furt gelegenen Stadtteil ansteuerte.
“Diese Herberge ist für die Besucher aus Anderás gedacht”, erklärte er und öffnete die Tür. “Wir werden in zwei Tagen aufbrechen. Bis dahin müssen wir euch mit dem Nötigsten versorgen, damit wir die Mauer überqueren können.”
“Die Mauer?”, fragte Amy verdutzt. Sie ließ ihre Taschen zu Boden fallen. Leyara folgte dem Beispiel. Das Gewicht loszuwerden, tat gut.
“Ja, Anderás liegt östlich der Mauer, geschützt vor den Unbilden der Natur und der sich ständig streitenden Reiche. Im letzten Jahr ist ja wieder ein Krieg ausgebrochen, auch wenn zu vermuten ist, dass er jetzt nach Ende des Tiefschlafs langsam eingedämmt wird.”
Ratsmitglied Justus sah die Gepäckstücke an. “Ihr werdet euch auch von einigen Dingen trennen müssen. Wir können leider nur wenige persönliche Dinge mitnehmen, auch weil ihr noch Ausrüstung für die Reise benötigt.”
Amy seufzte und sah auf ihre Taschen.
“Ich zeige euch erst mal die Zimmer, in denen ihr schlafen werdet. Und nennt mich bitte einfach Justus, wenn wir unter uns sind.”
Auf dem Weg zu den Kammern zeigte er ihnen eine gemütliche Küche. In den Kammern selbst fand nicht mehr als ein Bett und ein kleiner Schrank Platz.
Leyara stellte ihren Rucksack auf ihrem Bett ab. Da Amy darauf bestand, ihr Gepäck selbst in ihre Kammer zu schleppen, ging Leyara zu Justus in die Küche.
“Schon fertig?”, fragte Justus.
“Ich besitze nicht viel”, erklärte Leyara. “Die Taschen gehören alle Amy.”
Justus schmunzelte. “Vor unserer Abreise wird dein Gepäck noch mehr werden. Ihr beide braucht gefütterte Kleidung, Bergsteigerausrüstung und Schneeschuhe. Es fängt zwar in den Traumlanden inzwischen schon an zu tauen, aber in der Mauer herrscht noch tiefster Winter.”
“Und in Anderás?“Leyara war froh, endlich ihre Fragen stellen zu können.
“Ich erzähle von Anderás, sobald alle da sind. Ein weiterer Traumwandler, der gerade die Ausbildung abgeschlossen hat, ist bereits mit meinen beiden Begleitern unterwegs, um seine Ausrüstung zu besorgen. Er weiß auch noch nichts über eure neue Heimat.”
Justus schwieg kurz. Dann sagte er: “Lazar bat mich, dich an deine Aufzeichnungen zu erinnern. Ich versprach ihm, dass du diese in Anderás abschließen würdest und wir ihm eine Abschrift zukommen lassen würden.”
Dankbar nickte Leyara. Das verschaffte ihr mehr Zeit. Aber vermutlich würde sie trotzdem ihr ganzes Leben dafür brauchen. Ob das für Lazar früh genug war? Recht hatte er ja, ihr Wissen konnte für zukünftige Traumwächter wichtig werden…
Draußen dämmerte es bereits, als zwei kräftige Männer durch die Tür traten. Im Schlepptau hatten sie einen sehr schlanken, großen Traumwandler, der unter seinen Päckchen schwankte.
“Hallo Justus!”, rief einer der Männer.
“Guten Abend, Brian”, erwiderte dieser.
“Ah, zwei weitere Neulinge!” Brian beäugte Amy und Leyara neugierig.
“Darf ich vorstellen?” Justus zeigte erst auf Amy und dann auf Leyara, die am Tisch saßen und Tee tranken. “Traumwandlerin Alizia Myna und Traumwächterin Leyara. Und dies sind Brian, Logan und Traumwandler Thilo.”
“Traumwächterin? Die Traumwächterin?” Der zweite Mann drängte sich an Brian vorbei, um die Frauen in Augenschein zu nehmen.
“Ja, Logan, die Traumwächterin, die den Tiefschlaf beendet hat”, antwortete Justus.
“Ohne Amy – Alizia Myna – hätte ich es nicht geschafft”, wiegelte Leyara ab.
“Wir bekommen beide Befreierinnen der Traumwandler? Wen musstest du dafür bestechen, Justus?”, fragte Logan begeistert.
“Sie wollten uns loswerden”, gab Amy kleinlaut zu. Sie setzte an, etwas zu hinzuzufügen, aber Leyara unterbrach sie.
“Wir haben uns bei unseren Aktivitäten in den Ländereien der Träume nicht an Regeln und Traditionen gehalten, sondern einen ganz eigenen Weg gefunden. Und das fand der Rat nicht gut”, erklärte sie schnell. Amys Worte hatten geklungen, als hätten sie etwas Verwerfliches getan, und sie wollte nicht schon am Anfang einen schlechten Eindruck erwecken.
“Ich glaube, dann passt ihr gut zu Anderás.” Mit diesen Worten schloss Justus das Thema ab. Er wandte sich an Brian und Logan. “Habt ihr Thilo gut ausgestattet?”
“Ja, haben wir”, Brian wandte sich an den jungen Mann hinter ihm. “Bring doch alles auf deine Kammer. Ich zeige dir morgen, wie du deinen Rucksack für die Reise am besten packst.”
Thilo nickte, dann schleppte er seine Einkäufe die Treppe hinauf.
“Ich brauche deine Hilfe morgen auch, Brian, um die Habseligkeiten von Alizia Myna zu sortieren. Und Logan, könntest du vielleicht Leyara helfen?”
Als Amy und Leyara sich ansahen, lächelte er nachsichtig. “Keine Sorge, Brian und Logan werden nicht eure Unterkleider durchwühlen. Sie bringen schon seit vielen Jahren Leute über die Mauer und helfen allen, ihre Taschen für die Reise zu packen.”
“Bitte, nennt mich Amy.” Amy seufzte. “Meine Eltern haben mir diesen schrecklichen Namen aufgebürdet. Ich breche mir jedes Mal beinahe die Zunge. Aber meine Mutter meinte, ich bräuchte als eine der Jüngsten zumindest einen interessant klingenden Namen, damit sich überhaupt ein Mann auf eine Verbindung mit mir einlässt.”
“Oje, Reich des Löwen, nehme ich an?”, fragte Brian mitfühlend.
“Ja, wir beide”, sagte Leyara.
“Na, da seid ihr in Anderás besser aufgehoben”, meinte Brian und nahm sich einen Tee.
Wenig später saßen alle zusammen am Tisch.
“Nun gut, ich vermute nicht, dass der Rat uns weitere Traumwandler überlassen wird.” Justus trank einen Schluck aus seiner Tasse. “Sonst ist es schwerer sie zu überzeugen. Diesmal waren sie erstaunlich großzügig. Ihr drei müsst Eigenheiten haben, die sie nicht schätzen.” Als alle drei zu einer Erwiderung ansetzten, hob Justus die Hände. “Ihr zwei, Amy und Leyara, habt ja schon kurz von euren Erfahrungen erzählt. Aber all diese Eigenheiten, die dem Rat missfallen, sind in Anderás nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass keiner von euch bisher straffällig geworden ist, andere belästigt oder andere unschöne Dinge getan hat.”
Justus holte tief Luft. “Ich weiß, dass ihr neugierig auf Anderás seid und wissen wollt, was es mit eurer neuen Heimat auf sich hat. Leider kann ich euch erst dann Genaueres sagen, wenn wir die Mauer erreicht haben – ab dort gibt es keinerlei Orte mehr, wo wir mit anderen Menschen Kontakt haben könnten. Ich weiß, dass das nicht befriedigend ist, aber Anderás braucht diesen Schutz. Das Reich ist noch relativ jung und wir können immer nur eine bestimmte Anzahl an Personen erfolgreich in unsere Gesellschaft aufnehmen – und drei sind schon recht viel. Bei Traumwandlern werden diese Regeln aber etwas weiter ausgelegt, da der Rat sozusagen schon eine Vorauswahl getroffen hat.”
“Weiß der Rat, wie es in Anderás ist?”, fragte Amy.
“Nur ganz grob. Sie wissen, dass es Anderás gibt und dass wir kein schlechtes Leben führen”, erklärte Justus. “Aber wie wir leben, das wissen sie nicht. Gerade bei Traumwandlern sollte man eigentlich davon ausgehen, dass sie weniger starr in ihren Ansichten sind. Trotzdem schieben sie gern Personen zu uns ab, die nicht in ihr Weltbild passen.” Justus seufzte.
“Aber genug dazu. Ihr werdet früh genug erfahren, was euch erwartet”, sagte er und klatschte in die Hände. “Dass ihr drei euch frei für Anderás entschieden habt und das ohne die gewährte Bedenkzeit, stimmt mich zuversichtlich, dass ihr zu uns passt. Es zeigt mir, dass ihr mit euren bisherigen Lebensumständen unzufrieden wart.”
Er nickte, wie um seine eigenen Worte zu bekräftigen, und fuhrt fort: “Wir werden in zwei Tagen aufbrechen. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Amy und Leyara müssen mit allem ausgestattet werden, was für die Reise benötigt wird. Diese Erstausstattung zahlt der Rat, wie er es für alle Traumwandler tut, die an ihre zukünftigen Tätigkeitsorte reisen. Außerdem könnt ihr noch Nachrichten an eure Familie schreiben. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie überbracht werden. Sobald wir die Mauer überquert haben, wird es sehr schwer, Nachrichten in eines der Reiche zu entsenden.”
Kapitel 2
Leyaras Sachen lagen vor ihr auf dem Bett verteilt. Logan hatte sie gebeten, diese schon einmal zu ordnen, sodass er sich schneller einen Überblick verschaffen konnte. In der Nachbarkammer waren Amy und Brian bereits dabei, Amys Habseligkeiten auszusortieren. Brian hatte Amy noch vor dem Frühstück geweckt und beim Essen hatte Amy erschöpft und resigniert gewirkt. Leyara vermutete, dass sie vieles, was ihr ans Herz gewachsen war, nicht würde mitnehmen können. Hoffentlich würde es ihr selbst nicht ähnlich ergehen.
“Ah, du bist vorbereitet. Sehr gut”, sagte Logan, als er die Kammer betrat. Geübt nahm er den Stapel in Augenschein. “Die Lederhose hier und diese drei Hemden sind qualitativ hochwertig, das ist ein guter Anfang.” Logan legte die benannten Teile zur Seite. “Die restlichen Hosen und Hemden würde ich auf dem Markt durch wärmere Kleidungsstücke ersetzen. Sie sind zwar nicht sehr abgetragen, aber ihr Zustand sowie die allgemeine Qualität sind schlechter.”
Mit einem kurzen Blick auf die Unterkleider fügte er hinzu: “Unterkleider werden wir dir komplett neue besorgen. Zum einen – sei mir nicht böse – sind sie schon sehr fadenscheinig. Zum anderen brauchst du auch hier wärmende Ausrüstung.”
Leyara nickte beklommen. Gerade in Hinblick auf ihre Unterkleider hatte sie dieses Urteil bereits erwartet. Die hohe Belastung durch das viele Reiten während der Reise hatte die schon zuvor abgenutzten Stücke fast unbrauchbar gemacht.
“Der Schlafsack ist gut, aber du wirst einen wärmeren benötigen. Wir lassen deinen hier. Für eine Gruppe, die im Sommer die Berge überquert. Das Koch- und Essgeschirr ist brauchbar, das können wir mitnehmen und damit das Vorhandene ergänzen.”
Logan fügte die genannten Gegenstände der Hose und den Hemden hinzu.
“Dann bleibt deine Bürste, das Buch und die Karte.” Das Genannte wanderte auf den Stapel der Dinge, die mitgenommen werden sollten.
“Du hast wirklich nicht viel. Das erleichtert es dir, zu reisen. Aber wie kommt es dazu?”
“Ich bin als einfaches Mädchen im Reich des Löwen aufgewachsen und dann noch ohne Vater. Mutter und ich haben nie viel besessen.” Leyara zuckte mit den Schultern. “Zu der Reise in die Traumlande bin ich durch Zufall aufgebrochen. Erst unterwegs begann ich plötzlich zu wandeln.”
“Ah, das erklärt einiges.” Logan wandte sich zur Tür. “Lass uns zum Marktplatz gehen.”
Leyara warf einen kurzen Blick auf das Kleid ihrer Mutter. Sie würde Logan überreden müssen, dass sie es mitnehmen durfte, wenn sie wieder zurück waren.
Als erstes steuerte Logan einen Lederer an und suchte dort einen neuen, sehr stabilen Rucksack für Leyara aus.
“Hier, den wirst du brauchen. Dein Rucksack würde die Reise vielleicht überstehen, aber du wirst für die vielen Taschen noch dankbar sein.”
Leyara nahm den Rucksack entgegen und beugte sich tiefer über die Auslagen. Auf dem gesamten Weg zum Marktplatz war sie immer wieder von dankbaren Traumwandlern oder deren Angehörigen angesprochen worden. Alle hatten sich persönlich bei ihr bedankt und ihr eine gute Reise gewünscht. Jeder hatte dabei die Entscheidung des Rates kritisiert. Nun war sie froh, etwas Ruhe zu haben.
Logan wühlte sich weiter durch die Auslage und fand einen dick gefütterten Schlafsack, den er Leyara am Rucksack befestigen ließ. Dem Lederer sagte er, dass der Einkauf auf das Reisekonto der frisch ausgebildeten Traumwandler ging.
Als nächstes steuerte Logan den Stand eines Schmiedes an, der ihn freundlich begrüßte.
“Logan! So früh zurück?” Mit einem Blick auf Leyara fragte er: “Das Übliche?”
Als Logan nickte, holte der Schmied ein Paar Steigeisen, eine gute Handvoll kleiner Haken, einen Pickel und einen Hammer hervor. Logan füllte die Haken in eine Tasche an Leyaras Rucksack, Pickel und Hammer kamen in die dafür vorgesehenen Schlaufen.
“Ich wünsche eine gute Heimreise!”, sagte der Schmied. “Grüß mir Frau und Kinder.”
“Das mache ich.” Logan lächelte. “Miriam freut sich immer, von dir zu hören.”
Der Schmied reichte Leyara die Hand. “Und Ihr, Traumwächterin, habt Dank für alles, was Ihr für uns Traumwandlern getan habt! Dank Euch ist meine Schwägerin wieder erwacht. Wir hatten alle große Sorge um sie. Sie ist schwanger, müsst Ihr wissen. Wenn der Tiefschlaf noch etwas länger gedauert hätte …”
Leyara schluckte und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Daher drückte sie dem Schmied wortlos die Hand.
“Wir müssen weiter”, sagte Logan. “Richte deiner Schwägerin meine und Miriams beste Wünsche aus. Auch für das Kind!”
Logan winkte dem Schmied zum Abschied und zog Leyara weiter zum Stand eines Seilers. Dort suchte er zwei stabile Seile aus und befestigte sie an der Seite des Rucksacks. Nach Klärung der Bezahlung drehte er sich zu Leyara um.
“Gut, das Kletterzubehör und den Schlafsack haben wir. Lass uns etwas essen, und dann suchst du dir Unterkleider aus. Anschließend schauen wir, dass du festes Schuhwerk bekommst.” Logan musterte Leyaras Füße. “Das könnte etwas schwierig werden, aber ich kenne einen Schuster, der auch recht kleine Größen hat. Dort müssten wir auch Schneeschuhe bekommen.”
Leyara hatte in Theodorfurt bisher kaum eines der vielen kleinen Gasthäuser betreten, eigentlich nur einmal mit Arthur. Mit Amy hatte sie meist bei Bäckerin Sina oder Ältestem Timotheus gegessen.
Das Gasthaus, in das Logan sie führte, hatte nur fünf Tische, wovon drei bereits besetzt waren. Logan steuerte einen freien Tisch an, der in einer Ecke stand. Leyara folgte ihm und setzte sich mit dem Rücken zur Wand.
“Dieses Gasthaus besuche ich gern”, erklärte Logan und rieb sich leicht die Hände. “Die Küche ist wirklich gut.”
Eine junge Frau trat an den Tisch. “Das Tagesgericht ist heute Kartoffeln mit Quark und Gemüse. Wir hätten auch noch einen Rest vom gestrigen Eintopf.”
“Zweimal das Tagesgericht, bitte. Und für mich eine extra Portion eures Sauerkrautes!”, sagte Logan.
“Sehr gern.” Die junge Frau wandte sich an Leyara, die sich durch Logans Bestellung an Arthur erinnert fühlte. “Habt Ihr noch irgendwelche Wünsche?”
“Könnte ich einen Apfel oder eine Birne zum Nachtisch bekommen?”
“Natürlich!” Die Bedienung strahlte über das ganze Gesicht. “Ich bringe euch einen Krug unseres Birnensaftes. Und als Nachspeise eine kleine Auswahl unserer Äpfel.”
Nachdem die Bedienung durch eine kleine Tür verschwunden war, sah Logan Leyara erstaunt an. “Hast du gewusst, dass deine Bestellung sie so erfreuen würde?”
“Nein. Mir ist einfach nach etwas Fruchtigem. Ich habe auf der Reise kaum Obst essen können. Meist gab es nur warme Speisen. Genauso wie beim Ältesten Timotheus – die Stadtteile haben uns zwar mit Lebensmitteln versorgt, aber viel Obst war nicht dabei. Und in den Ländereien kann man zwar auch gut essen, aber das ist trotzdem etwas anderes.”
“Du kennst dich gut aus in den Ländereien, oder?”, fragte Logan neugierig und verschränkte die Arme auf der Tischplatte.
“Gut auskennen? Das kann ich gar nicht so genau sagen. Ich bin viel herumgekommen. Aber letztlich waren es meist dieselben Orte: Leopolds Hütte, Orakyls und Ypsals Tal in den Bergen, die als Basis genutzte Höhle und am Ende noch einige Tage in der Hauptstadt.”
“Es gibt in den Ländereien Berge?” Logan beugte sich zu Leyara vor.
“Ja, aber irgendwie waren sie seltsam.” Beim Gedanken an ihre Erlebnisse dort schüttelte Leyara den Kopf. “Ich glaube nicht, dass sie mit den Bergen hier vergleichbar sind. Es gab einen gepflegten Pflasterweg und jeden Abend eine Hütte für die Rast.”
“Diese Annehmlichkeiten werden wir auf unserer Reise nicht haben.” Logan lehnte sich zurück. Die junge Bedienung kam herbei und stellte ihnen jeweils einen Teller mit dampfenden Kartoffeln, Kräuterquark und gekochtem Wintergemüse hin. Neben Logans Teller platzierte sie außerdem eine Schüssel voll Sauerkraut.
“Nun gut. Iss dich satt! Du wirst alle Kraft brauchen”, forderte Logan Leyara auf.
Sie folgte der Aufforderung und stellte fest, dass die Kartoffeln auch ohne den Quark sehr schmackhaft waren. Die Sorte kannte sie noch nicht.
“Wenn wir wieder zurück sind, kannst du Briefe an diejenigen schreiben, die dir am Herzen liegen. Sobald du in Anderás bist, wird das kaum noch möglich sein, obwohl wir Bergführer immer mal Briefe in die Traumlande mitnehmen.”
Die Bedienung kam mit zwei Bechern und einem Krug Birnensaft zurück. “Lasst es euch schmecken! Wenn ihr noch etwas braucht, winkt einfach.”
Leyara wartete, bis die junge Frau die Gäste an einem anderen Tisch bediente, ehe sie fragte: “Reist ihr häufig in die Traumlande?”
“Das ist davon abhängig, ob Anderás gerade neue Einwohner mit bestimmten Fähigkeiten benötigt oder nicht.” Logan wandte sich seinem Essen zu. “Aber selbst, wenn das nicht der Fall ist, reisen Brian und ich einmal jährlich in die Traumlande. Das ist das Abkommen mit dem Rat der Traumwandler: Sie wahren unser Geheimnis und dafür nehmen wir jene Traumwandler auf, die während der Ausbildung auffällig geworden sind. Wobei kriminelle Handlungen kategorisch ausgeschlossen sind.”
“Also Traumwandler wie Amy, die sich nicht an die Traditionen gehalten haben?”
“Genau.” Logan nickte.
Leyara aß eine Weile schweigend. Aber dann fragte sie schließlich: “Wie ist Anderás so?”
“Viel darf ich dir nicht verraten.” Logan seufzte und tauchte seinen Löffel in das Sauerkraut. “Eigentlich nicht mehr, als du bereits weißt. Es existiert. Und du wirst dort nicht verhungern. Alles Weitere wirst du auf der Reise erfahren und in Anderás selbst.”
“Kannst du mir etwas von der Reise dorthin erzählen?” Leyara versuchte es mit einer anderen Frage. Sie zerteilte eine Kartoffel und verteilte Kräuterquark auf den Hälften.
“Wir haben dir eine Kletterausrüstung besorgt. Die wirst du definitiv brauchen für die Reise. Aber auch hierzu kann ich dir nur wenig sagen. Der Weg ist nicht ungefährlich, aber den Rest musst du selbst sehen.”
“Auch meine Reise in die Traumlande war nicht ungefährlich”, sagte Leyara. “Jonathan und ich waren nur zu zweit unterwegs.”
“Zu zweit?” Logan sah von seinem Teller auf. “Von wo? Dem Reich des Löwen?”
Leyara nickte.
“Ja, auch das ist für zwei Personen gefährlich”, sagte Logan, klang dabei aber nicht sehr überzeugt. “Selbst wenn ihr als Mann und Frau je nach Reich den jeweils anderen als Leiter der Gruppe darstellen konntet.”
“Ja, im Reich der Bärin musste ich die Führung übernehmen. Jonathan hat das bei den Löwen getan.” Nachdenklich steckte Leyara das letzte Stück Kartoffel in den Mund. Wie aus dem Nichts stand plötzlich die Bedienung neben ihrem Tisch und räumte ab. Anschließend stellte sie eine Schale kleingeschnittener Äpfel auf den Tisch.
Nach dem Essen führte Logan Leyara zu einem Schneider, um warme Unterkleider zu besorgen. Logan wandte sich derweil den Jacken zu.
Dankbar für seine Diskretion sah sich Leyara die Unterkleider an. Die Auswahl war überwältigend.
Die Frau des Schneiders kam zu ihr. “Ausrüstung für die Berge, nehme ich an?” Sie nickte wissend zu Logan hinüber.
“Ja.” Verlegen sah Leyara sie an.
“Dann würde ich das hier empfehlen.” Sie griff gezielt in einen Korb und hielt Leyara ein wollenes Etwas hin. “Wir haben hier ein Zwei-Schichten-System. Innen weiche Baumwolle oder Leinen, außen dick gestrickte Wolle. Das Leinenstück kann getauscht werden und wird mit Schlaufen befestigt.”
“Sieht man das nicht?”, fragte Leyara leise und lief rot an. Wie oft hatte ihre Mutter sie ermahnt, ihren Körper und auch die Unterkleider sorgfältig zu bedecken? Inzwischen wusste Leyara, warum.
“Selbst wenn, du wirst trotzdem dankbar für die Wolle sein. In dieser Jahreszeit ist ein Ausflug in die Berge wagemutig.” Die Verkäuferin zog eine Hose von einem Stapel. “Unter diesen Hosen fällt die Unterkleidung ohnehin nicht auf. Und du wirst sie brauchen.”
Verwundert befühlte Leyara die Hose. Innen und außen spürte sie Leder, trotzdem war sie deutlich dicker als es zwei Lederschichten erwarten ließen.
“Diese Hose ist mit Wolle gefüttert”, erklärte die Verkäuferin. “Wir haben auch ein paar da, die innen nur mit Fell besetzt sind.”
Leyara nickte. Sie warf einen kurzen Blick auf Logan, unsicher, was sie brauchen würde.
Die Verkäuferin musterte Leyara, dann zog sie jeweils drei verschiedene Größen Unterkleider heraus. “Hier, probiere sie einmal an. Bei dieser Kleidung ist es wichtig, dass sie vernünftig sitzt und nicht scheuert. Lass die Unterkleider an!” Sie deutete auf eine kleine Umkleidekabine.
In der Kabine zog Leyara rasch ihre Hose aus und streifte vorsichtig die erste Unterhose über.
Die Verkäuferin steckte den Kopf herein. “Ah, das sieht gut aus! Die Größe passt.” Mit diesen Worten nahm sie Leyara direkt die anderen Größen ab.
Leyara zog die zusätzliche Unterhose aus und ihr Hose an. Dann verließ sie die Kabine.
“Nun zu den Hosen.” Die Verkäuferin zog zwei hervor. “Diese müssten beide passen. Schau mal wegen der Länge!”
Leyara hielt die Hosen neben sich. Eine war etwas zu kurz, die andere kam ihr etwas lang vor.
“Hm, ich glaube, mit der etwas kürzeren können wir leben”, überlegte die Verkäuferin laut. “Mit Stiefel sollte die Länge eigentlich kein Problem darstellen.”
Logan trat dazu und befühlte die Hose. “Gute Qualität. Nehmt davon am besten zwei und zusätzlich eine warme, lange Unterhose.”
Die Verkäuferin nickte und zog eine weitere Hose in derselben Größe hervor. “Ihr habt Glück, wir haben noch genau zwei davon.” Die Hosen wanderten auf den Stapel mit den Unterkleidern, dann suchte die Verkäuferin eine passende, lange Unterhose hervor. “Warme Hemden braucht ihr sicherlich auch?”
Als Logan nickte, zog die Verkäuferin mehrere Hemden hervor. Leyara sollte sie direkt einmal überziehen. Von der so ermittelten Größe hatte die Verkäuferin sogar verschiedene Farben da. Überwältigt sah Leyara die Hemden an.
“Such dir Farben aus, Leyara”, meinte Logan. “Und wir –”
Er unterbrach sich. “Was ist los?”
Leyara rannen Tränen die Wangen hinunter. Sie schluckte und wischte sie rasch fort, aber es kamen direkt neue.
“Na, na.” Die Verkäuferin zog Leyara in den Arm. “Ist ja alles gut.”
Leyara brauchte einen Moment, um sich wieder etwas zu fangen. “Es – es geht mir gut. Es – es ist nur – ich habe mir noch nie neue Kleider beim Schneider – Ich …”, stotterte sie.
“Noch nie?”, fragte Logan mitleidig. “Und woher hattest du deine Kleider?”
“Bei uns im Dorf gab es auf dem Markt einen Stand, an dem aussortierte Kleider angeboten wurden. Teils getragen, teilweise war der Schnitt falsch oder beim Nähen etwas schief gegangen”, erklärte Leyara, immer noch stockend. “Die Frau des Schneiders hat uns immer mal wieder Stoffreste geschenkt, mit denen wir flicken oder anpassen konnten. Es hat farblich selten zusammengepasst, aber … wir hatten etwas zum Anziehen.”
“Und da du keine Ausbildung durchlaufen hast, hast du hier in den Traumlanden natürlich nie etwas erhalten”, sagte Logan nachdenklich.
“Dafür war ich viel zu kurz hier”, stimmte Leyara zu.
Logan nickte.
“Nun, das Problem wirst du in Zukunft nicht mehr haben. Dafür werde ich Sorge tragen”, versprach er.
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